Profilbild von wortwandeln

wortwandeln

Lesejury Profi
offline

wortwandeln ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit wortwandeln über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.04.2023

Knisternde Spannung

Wolfskinder
0

Oben auf dem Berg, inmitten einer rauen, unwirtlichen Natur, liegt die Siedlung Jakobsleiter, eine archaisch anmutende Gemeinschaft, deren Mitglieder biblische Namen tragen und ein abgeschiedenes, ...

Oben auf dem Berg, inmitten einer rauen, unwirtlichen Natur, liegt die Siedlung Jakobsleiter, eine archaisch anmutende Gemeinschaft, deren Mitglieder biblische Namen tragen und ein abgeschiedenes, einfaches Leben fernab der Zivilisation führen. Unter ihnen die Jugendlichen Jesse und Rebekka, die unten im Tal zur Schule gehen, wo die misstrauischen Dörfler - mit Ausnahme der Lehrerin und des Bürgermeisters - sie wie Aussätzige behandeln. Dennoch möchte Rebekka nichts mehr, als dem Berg zu entkommen. Und dann verschwindet sie plötzlich so spurlos wie mehrere junge Frauen aus der Gegend vor ihr. Ist Rebekka freiwillig gegangen? Ihr Freund Jesse hat Zweifel und begibt sich ebenso auf die Suche wie die junge Redaktionsvolontärin Smilla. Diese hat vor zehn Jahren auf dem Berg beim Campen ihre direkt neben ihr schlafende Freundin Juli verloren und wird seitdem von einer Art „Überlebensschuld“ verfolgt und am Leben gehindert. Als Einzige (das ist ein bisschen unwahrscheinlich, aber sei‘s drum) sieht sie eine Verbindung zwischen den Vermisstenfällen. Als ihr dann noch ein verwildertes kleines Mädchen vor das Auto läuft, das Juli erstaunlich ähnlich sieht und dessen Identität nun öffentlich geklärt werden muss, ist nicht nur Smilla nicht mehr zu bremsen. Das latente Misstrauen der Dörfler schlägt jetzt in nackte Gewalt gegen die Berggemeinschaft um, doch dann kommt die junge Journalistin hinter ein Geheimnis, das alles verändert…

Vera Buck hat mit „Wolfskinder“ einen atmosphärisch dichten und stets etwas düsteren Roman vorgelegt, der sich wie ein herangrollendes Unwetter am Berg mit unheimlicher Ruhe Seite um Seite zu einem Thriller mausert, und den ich nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die Autorin, die bereits mit ihrem Debütroman „Runa“ Leserschaft und Kritik zu überzeugen wusste, schreibt auch hier leicht und elegant und bringt den Lesenden ihre sorgsam ausgearbeiteten Charaktere schnell nahe. Besonders die kleine wilde, schlaue und doch beunruhigende Edith weckt einerseits Mitgefühl und Sympathie und sorgt zugleich für aufgestellte Nackenhaare. Aus den Perspektiven der sehr unterschiedlich angelegten Figuren wird die Geschichte Stück für Stück erzählt, gut platzierte Cliffhanger und raffiniert gestreute Hinweise sorgen für wachsende Spannung, bis sich am Ende alles so überraschend anders wie überzeugend schlüssig fügt. Absolute Leseempfehlung!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 06.11.2022

Ebenso genialer Folgeband

This Charming Man
0

"Die Tür zu Banecrofts Büro wurde aufgerissen, und der Mann höchstpersönlich kam mit der Blunderbuss auf seiner Schulter herausgestampft. (...) 'Also, ich bin ein vielbeschäftigter Mann, machen wir's kurz. ...

"Die Tür zu Banecrofts Büro wurde aufgerissen, und der Mann höchstpersönlich kam mit der Blunderbuss auf seiner Schulter herausgestampft. (...) 'Also, ich bin ein vielbeschäftigter Mann, machen wir's kurz. Es spricht immer der, auf den ich mit der Waffe zeige.'"
Wer derart effizient Teamsitzungen zu leiten versteht, hat meine volle Sympathie. Vincent Banecroft, Chefredakteur der "StrangerTimes", Manchesters publizistischem Organ für alles Paranormale, hat nicht nur an Charakterbildung und Körpergeruch nochmal ordentlich zugelegt. Ein Typ, den man beim Lesen feiert, in der Hoffnung, ihm im wirklichen Leben niemals zu begegnen.
Doch so wirkungsvoll Banecroft seine Leute auch motiviert - zwischen der Redaktionssitzung und der nächsten Ausgabe liegt jede Menge Ermittlungsarbeit. Etwas Unerhörtes ist geschehen, das sogar die verfeindeten "magischen" Parteien aus dem ersten Band in Empörung vereint und zur Kooperation zwingt: in der Stadt treiben Vampire ihr Unwesen, und die, das ist ja wohl jedem klar, gibt es überhaupt nicht...
Außerdem hat eine dubiose Sanitärfirma im Redaktionsbadezimmer eine Falltür-Dusche eingebaut, vermutlich, um Volontärin Stella zu fangen, die im letzten Showdown alle - einschließlich sich selbst - mit enormen magischen Kräften überraschte.
Neben den bereits bekannten Redakteuren, Ermittlern und Geistern bevölkert der Autor diesen Teil mit weiterem skurrilen Personal, wie einen auf den Fluss verbannten Wahrsager, der wie der Name andeutet, nur die Wahrheit sagen kann und dem deshalb nicht zu trauen ist, sowie seinen sprechenden Hund Zeke, der eine ziemlich freche Schnauze hat. Außerdem leistet ein freier Reporter auf Zucker halsbrecherischen Investigativjournalismus, eine Dating-App stellt alles Marktübliche in den Schatten, und damit es Spaß macht, hat auch die Gegenseite so einiges aufzubieten.
Schließlich brennt es an allen Ecken und Enden, die "Guten" spurten in Zweierteams los, und ich musste mich konzentrieren, um alle Handlungsfäden im Blick zu behalten.
Bis zum lange vorbereiteten und dann etwas kurz abgehandelten Finale gibt es jede Menge Action fürs Kopfkino, überraschende Wendungen und viel zu lachen. Für meinen Geschmack bleiben am Ende (zugunsten des dritten Teils?) jedoch zu viele Fragen offen. Der Autor kündigt im Nachwort den Folgeband ja bereits an. Vermutlich werden die losen Enden dann verknüpft.
Zugegeben, ich musste bereits den ersten Teil nochmal kurz überfliegen, um mich an alles Wichtige zu erinnern. Kann natürlich am fortgeschrittenen Lesealter liegen, doch McDonnells Prosa lebt vor allem von schnellen Szenenwechseln, Wortwitz, Schlagfertigkeit in den Dialogen und Situationskomik und ist entsprechend kurzlebig. Ein Vergnügen für den Moment, aber darin unschlagbar.
In diesem Sinne kann ich Dank und Kompliment an André Mumot nur wiederholen: garantiert pointensicher übersetzt! Autor und Leserschaft können sich glücklich schätzen, dass er den kuriosen Humor des preisgekrönten irischen Stand-up-Comedians so genial ins Deutsche überträgt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.11.2022

Wichtiges Thema, mäßig umgesetzt

Tote ohne Namen
0


Im südkalifornischen San Diego werden zwei übel zugerichtete Mädchenleichen entdeckt. Die Polizei geht von Zwangsprostitution und Menschenhandel aus und zieht die hartgesottene Privatdetektivin Alice ...


Im südkalifornischen San Diego werden zwei übel zugerichtete Mädchenleichen entdeckt. Die Polizei geht von Zwangsprostitution und Menschenhandel aus und zieht die hartgesottene Privatdetektivin Alice Vega hinzu, weil eines der Mädchen einen Zettel mit deren Namen umklammert hält. Schnell kommt die clevere Ermittlerin dahinter, dass es noch mindestens vier weitere Opfer geben muss, die es rechtzeitig zu finden gilt...Mit dem sensiblen Ex-Polizisten Max Caplan, den Vega aus einem früheren Fall kennt, ist das Team perfekt.
Ein ergreifender Einstieg, ein erschütternder Stoff, das ungleiche Duo - kein neues Setting, aber doch eines, das einen soliden Thriller verspricht. Vor allem, wenn schon das Cover die "knisternde Spannung" und "atemberaubende Lektüre" feiert. Doch leider wird das Versprechen nicht gehalten.
Die Handlung versandet schnell in kleinschrittiger Ermittlungsarbeit, die Protagonisten bleiben seltsam holzschnittartig, ihre Charaktere in Andeutungen gehüllt, die auch später nicht aufgelöst werden. Richtig schwierig wird das, als der Roman im letzten Drittel endlich Fahrt aufnimmt und mit der Spannung auch die Ungereimtheiten zunehmen. Planloser Haudrauf-Aktionismus, emotionale Ausbrüche, die eher auf Distanz gehen lassen, bis hin zum Dauereinsatz des Bolzenschneiders, mit dem sich die anfänglich so scharfsinnige Alice Vega zum Ende durchprügelt. Dieses kommt dann recht unvermittelt daher und hat mich so wenig überzeugt wie der Umgang mit dem Stoff selbst. Das Thema Mädchenhandel wird oberflächlich - als Einzelfall - abgehandelt und dient der Geschichte lediglich als Aufhänger.
Auch sprachlich bewegt sich der Roman oft außerhalb des Thriller-Registers. All die abgebrühten Kerle, vom Cop bis zum Kartellboss, "sausen", "flitzen" oder „kichern“ nur so durch die Handlung.-
Der Suhrkamp-Verlag steigt hier mit dem zweiten Vega-Band der New Yorker Autorin Louisa Luna in die Reihe ein. Ob das Unbehagen beim Lesen daraus resultiert, dass man etwas verpasst zu haben glaubt? Ich fürchte, ich werde auch bei Gelegenheit das Versäumte nicht nachholen. ⭐️⭐️⭐️/5









  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.11.2022

Unglaublich gut

Zwischen den Welten
0


Von iranischer Erzählliteratur kann ich nicht genug bekommen, aber den Sachbüchern wollte ich eigentlich keinen neuen Titel hinzufügen. Doch dann legte mir ein lieber Mensch, dem ich auch meinen Bookbeat-Account ...


Von iranischer Erzählliteratur kann ich nicht genug bekommen, aber den Sachbüchern wollte ich eigentlich keinen neuen Titel hinzufügen. Doch dann legte mir ein lieber Mensch, dem ich auch meinen Bookbeat-Account verdanke, das Hörbuch „Zwischen den Welten“ von Natalie Amiri ans Herz. Reinhören könnte ich ja mal, dachte ich während des Hundespaziergangs...und lief und lief und lief...

„Jede Geschichte, die ich erzählen wollte, war begleitet von Herzklopfen und dem Gefühl, dieses Mal holen sie dich, dieses Mal kommst du nicht davon. Dabei hoffte ich inständig, dass sich das Risiko lohnt, dass diejenigen, die mir im Westen zuhörten, den Iran nach meinen Berichten differenzierter sehen würden: Hört hin, schaut hin! [...] Hier gibt es Menschen, die darauf hoffen, dass ihr sie unterstützt. Dass ihr sie erkennt. Dass ihr ihren Durst nach Freiheit seht und begreift. Ihren Wunsch, ein anerkannter Teil dieser Welt zu sein.“

Von 2015 bis 2020 hat Natalie Amiri als leitende ARD-Korrespondentin aus Teheran berichtet. Bis es tatsächlich zu gefährlich wurde. Ihre Erfahrungen hat sie nun in einem fesselnden und sehr persönlichen Buch veröffentlicht. Geschrieben in einer Mischung aus professioneller Distanz und Herzblut, die samt fundierter Recherche und präziser Einordnung zu gutem Journalismus beiträgt. Dass sie außerdem eine stilsichere, brillante Erzählerin und trainierte Sprecherin ist, macht das Ganze zu einem großen Hörvergnügen.

Kapitel für Kapitel setzt die Journalistin das vielschichtige, funkelnde, herzzerreißende, absurde Mosaik des gegenwärtigen Iran zusammen. Differenziert, spannend, aus erster Hand. Solidarisch mit der Zivilgesellschaft, schonungslos gegenüber dem Mullah-Regime.

Natalie Amiri erzählt vom Alltag in einer nahezu schizophrenen Parallelgesellschaft, in die eine religiöse und brutale Tyrannei die Iraner zwingt und als Volk spaltet. Hinter deren verschlossenen Türen nicht nur freies Gedankengut blüht, sondern auch maßlos Alkohol und Drogen konsumiert werden und psychische Krankheiten wuchern wie sonst kaum irgendwo.

Unerträglich wird das ganze aber nie. Anekdoten wie die vom anrührenden Wiederfinden eines uralten Familienteppichs und persönliche Erlebnisse wechseln mit Reportagen über mutige Frauen, die Kraft der sozialen Medien, die Beziehungen zu Israel oder auch die abgelauschten Kniffe eines iranischen Geschäftsmannes.
Vor allem aber berichtet sie von der Sehnsucht nach Freiheit, nach ein bisschen Normalität in diesem zerrissenen und erschöpften Land.

Um ihre Geschichten und die Botschaften zwischen den Zeilen zu transportieren, riskieren Natalie Amiri und ihr Team nicht nur ihre Pressekarten, sondern auch ihre eigene Unversehrtheit.
Eher amüsant ist da noch die Szene, in der die Autorin während einer Reportage in einem Sumpf zu versinken droht, weil der iranische Producer ihr als Frau nicht die Hand reicht, um sie herauszuziehen. Das an beiden Enden gepackte Mikrofon ist schließlich die Rettung.

Das Buch steht inzwischen auch gedruckt in meinem Regal, zum Nachlesen und Verleihen, denn ich habe selten etwas Stimmigeres gehört.
Wer es gelesen hat, wird den Iran und seine Menschen in Farbe sehen können und keinen (Exil)-Iraner mehr in die vertrackte Lage bringen, die Verhältnisse in seiner Heimat relativieren, gar beschönigen oder zur Verteidigung auf 3000 Jahre Kulturgeschichte verweisen zu müssen.
Ihre Intention, den Menschen im Iran eine Stimme zu geben, hat Natalie Amiri meiner Meinung nach bestens umgesetzt.



  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.11.2022

Bewegendes Zeitzeugnis

Viktor
0

Es gibt ein Schweigen, das so laut ist, dass es beim Leben stört. So in etwa muss Geertje es empfunden haben. Schon früh bemerkt sie, dass mit ihrer kleinen Familie etwas nicht stimmt. Über die einst so ...

Es gibt ein Schweigen, das so laut ist, dass es beim Leben stört. So in etwa muss Geertje es empfunden haben. Schon früh bemerkt sie, dass mit ihrer kleinen Familie etwas nicht stimmt. Über die einst so zahlreichen Verwandten und ihr Schicksal wird nur verbrämt gesprochen: "Die schöne Laura? Der musikalische Otto? Die leben nicht mehr." Wünscht der jüdische Nachbar über die Hecke frohen Schabbes, ist die Mutter einer Panikattacke nah. Der Vater wirft ihr in lauten Streitereien ihr "inneres Gericht, Selbstbestrafung und Minderwertigkeitskomplexe " vor. Begriffe wie Transport, Lager oder Gas sind in jedem Kontext tabu. Dass man jüdisch ist, soll möglichst niemand wissen.
Es ist 1994 in Den Haag, als die 20-jährige Geertje das alles nicht mehr aushält. Die ausbleibenden Antworten, das unscharfe Selbstbild. Wem kann man sich zugehörig fühlen, wenn man nicht weiß, wer man ist? Ein "Paprika-Jantschi, laut, lebhaft, direkt, neugierig, unbesonnen"? Eine Vielleserin, wie alle Rosenbaums, aber nicht ganz so musikalisch? Oder wie der rätselhafte, schillernde Viktor, Bruder des Großvaters, mit dem sie manchmal verglichen wird ? Na bitte schön, dann eben Rebellin. Geertje flieht nach Nimwegen, ändert ihren Namen in Judith und begibt sich auf eine radikale Suche - nach Identität, alten Familiengeheimnissen und - Viktor.
Angelehnt an die Historie ihrer Familie hat die 52jährige niederländische Autorin Judith Fanto einen preisgekrönten Debütroman geschrieben, den man nicht mehr aus der Hand legen kann.
In zwei parallelen Erzählsträngen verknüpft Fanto ein ungewöhnliches Coming-of-Age mit der um die Jahrhundertwende beginnenden Geschichte der großbürgerlichen Wiener Familie Rosenbaum, in deren Mittelpunkt der unangepasste wie großherzige Lebemann Viktor steht.
Wortgewandt, leicht und humorvoll treibt die Autorin die Handlung voran. Die detailreichen, atmosphärischen Beschreibungen, spritzige, prägnante Dialoge und ein empathischer Blick auf die versammelten Figuren, die allesamt Charakter besitzen, machen das Lesen zu einem Vergnügen, selbst als am Horizont das Unheil dräut. Und hier befinde ich mich im Zwiespalt.
Es gibt durchaus Passagen, bei denen man heftig schlucken muss, aber im Großen und Ganzen wird der Lesende doch sehr vor der historischen Wahrheit beschützt. Man muss nicht alles benennen, um es fühlbar werden zu lassen, aber hat die Autorin die Diskretion und Verbrämung stärker verinnerlicht als ihrer Roman-Judith lieb wäre?
Vielleicht schafft gerade das aber auch den Zugang zum komplexen Thema:
Das Grauen der Judenverfolgung; die von Außenstehenden schwer fassbare „Überlebensschuld“ der Geretteten; die interne Hierarchie der Opfer; das Schweigen, das noch die nachfolgenden Generationen prägt, und nicht zuletzt die immer gültige Frage, was uns als Menschen ausmacht. Das Buch berührt, bildet, unterhält und klingt nach. Lesen!







  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere