Ein Traum, der sich verliert
Dream CountIn "Dream Count" erzählt Chimamanda Ngozi Adichie die Geschichten von vier sehr unterschiedlichen Frauen, deren Leben durch Sehnsucht, Verletzlichkeit und den Wunsch nach Selbstbestimmung verbunden sind. ...
In "Dream Count" erzählt Chimamanda Ngozi Adichie die Geschichten von vier sehr unterschiedlichen Frauen, deren Leben durch Sehnsucht, Verletzlichkeit und den Wunsch nach Selbstbestimmung verbunden sind. Die nigerianische Autorin wurde 1977 geboren, studierte in den USA unter anderem Afrikanistik an der Yale University und gilt heute als eine der bedeutendsten Stimmen der Gegenwartsliteratur. Ihr Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter der Orange Prize for Fiction. International bekannt wurde sie durch Romane wie Americanah oder Die Hälfte der Sonne, aber auch durch ihre feministischen Essays, die u.a. mit Beyoncé-Samples weltweite Aufmerksamkeit erhielten. Dream Count ist ihr erster Roman seit zehn Jahren und wurde mit großer Spannung erwartet.
Worum geht’s genau?
Vier Frauen, vier Perspektiven, ein verbindendes Thema: die Frage nach den eigenen Träumen und den Wegen, auf denen sie verloren gingen. Chiamaka, eine Reiseschriftstellerin, blickt zurück auf ihr Leben und ihre verpassten Chancen – insbesondere auf eine Beziehung, die hätte bedeutsam werden können. Zikora, eine Anwältin in Washington, wird alleinerziehende Mutter und konfrontiert in ihrer neuen Rolle plötzlich die verdrängte Nähe zu ihrer eigenen Mutter. Omelogor, in Nigeria aufgewachsen, arbeitet in der Finanzwelt, bis sie genug hat von Korruption und nach Bildung in den USA strebt. Und Kadiatou, die als Haushälterin und Hotelangestellte in prekären Verhältnissen lebt, wird Opfer eines Übergriffs – ein Gerichtsprozess folgt, in dem ihre Stimme kaum Gehör findet. Der Roman spannt ein erzählerisches Netz zwischen Nigeria, den USA und Europa und beleuchtet die inneren wie äußeren Kämpfe seiner Protagonistinnen – zwischen Verlust, Hoffnung und dem Wunsch nach Sichtbarkeit.
Meine Meinung
"Dream Count" war mein erstes Buch von Chimamanda Ngozi Adichie, und ich hatte entsprechend hohe Erwartungen – nicht zuletzt durch die vielen begeisterten Stimmen in meiner Buchbubble. Das übergeordnete Konzept des „Dream Count“, also einer Bilanz verpasster Chancen, hat mich sofort angesprochen. Die Metapher, als Umkehrung des bekannten Begriffs „Body Count“, eröffnet eine interessante Reflexion über Lebensentscheidungen, vergangene Beziehungen und ungenutzte Potenziale. Besonders Chiamakas Rückblick auf eine verpasste Liebesbeziehung mit Chuka bringt das gut zur Geltung.
Der Einstieg in den Roman gelang mir gut, auch weil Adichies Schreibstil elegant und flüssig ist – voller kluger Sätze und poetischer Bilder. Einige Zitate habe ich mir besonders markiert:
„Ich trauerte um etwas, von dem ich nicht einmal wusste, ob es existierte...“ (S. 19),
„Wohin verschwindet die Liebe, wenn wir aufhören zu lieben?“ (S. 81),
„Der tatsächliche Vorteil des Reisens ist, dass man der tröstlichen Alltäglichkeit aller anderen begegnet.“ (S. 113),
„Im unvollendeten Sterben empfindet man ein Verlangen danach zu trauern...“ (S. 173),
oder „Wie seltsam, dass wir beim Waten durch die Sümpfe des Lebens davon ausgehen, dass nur wir selbst mit Unsicherheiten zu kämpfen haben.“ (S. 474).
Was mich allerdings zunehmend frustrierte, war die Themenfülle, die leider nicht in die Tiefe ging. Adichie behandelt eine schier überwältigende Bandbreite an Themen: Rollen der Frau, Mutterschaft, Queerness, MeToo und sexualisierte Gewalt, geschlechtsspezifische Gewalt (etwa female genital mutilation), Abtreibung, Kinderwunsch, toxische Beziehungen, Schönheitsideale, feministische Perspektiven auf Literatur, Freundinnenschaft, Sexismus, patriarchale Strukturen, Rassismus, Kolonialismus, Diaspora, Identitätspolitik, soziale Ungleichheit, Reichtum und Klassenunterschiede, Migration, Korruption, Religion, mentale Gesundheit, Einsamkeit, Trauer, Selbstwert, Liebe, Manipulation in Beziehungen, Pornografie, Corona, westliche Doppelmoral, Eurozentrismus, Adoption, der Einfluss von Tourismus, die Macht von Geschichten – und noch viele mehr.
Diese thematische Dichte führte dazu, dass viele Aspekte lediglich angerissen und nie wirklich auserzählt wurden. Gerade weil mich viele dieser Themen interessieren, war ich enttäuscht darüber, wie oberflächlich sie behandelt wurden trotz des Umfangs des Buches (528 Seiten). Die Struktur des Romans – in fünf große Abschnitte gegliedert, je einer pro Figur, wobei Chiamaka Anfang und Ende bildet – ist grundsätzlich gut gewählt. Doch im Verlauf verlor ich zunehmend den Zugang zur Erzählung. Die einzige Figur, deren Kapitel mich wirklich tief bewegt hat, war Kadiatou. Ihre Geschichte – der Übergriff, das ungerechte Verfahren und die daraus resultierende Lebensveränderung – (basierend auf dem realen Vergewaltigungsvorwurf von Nafissatou Diallo gegen den damaligen IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn) war erschütternd und eindringlich erzählt. An dieser Stelle hat mich Adichies erzählerische Kraft überzeugt und berührt. Leider blieb dieses Gefühl auf diesen Abschnitt begrenzt.
Stellenweise zog sich das Buch enorm. Trotz des schönen Schreibstils wollte bei mir kein richtiger Lesefluss aufkommen. Ich musste mich zum Weiterlesen regelrecht zwingen. Auch der Klappentext hatte mir ein anderes Leseerlebnis suggeriert – ich hatte auf etwas gehofft, das mich ähnlich wie "Blue Sisters" von Coco Mellors mitnimmt, bei dem die geschichte auch aus versch. Perspektiven erzählt wird. Stattdessen war es für mich eine Berg- und Talfahrt, bei der sich Begeisterung und Ermüdung die Waage hielten. Am Ende stand ich mit dem Gefühl da, dass sich dieser Roman trotz vieler wichtiger Themen in seiner Ambition verzettelt. Es blieb eine gewisse Leere zurück – und auch Enttäuschung über das verpasste Potenzial.
Fazit
So wie die Protagonistinnen in "Dream Count" mit verlorenen Träumen ringen, hat mich auch dieser Roman enttäuscht zurückgelassen. Trotz starker Passagen und eindrucksvoller Sprache wirkt das Gesamtwerk überladen und wenig tiefgründig. Ich vergebe 2,5 von 5 Sternen – für den Schreibstil, den Versuch thematischer Vielstimmigkeit und das bewegende Kapitel über Kadiatou, aber auch für ein Leseerlebnis, das mich leider nicht durchgehend überzeugt hat.