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Veröffentlicht am 11.03.2024

Zwischen Pixeln und Poesie: Eine Achterbahn der Kreativität in "Morgen, morgen und wieder morgen"

Morgen, morgen und wieder morgen
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"Wenn aus einer Geliebten eine Freundin werden soll, darf man nie aufhören, sie zu lieben. Man muss sich klarmachen, dass eine Beziehung aus Abschnitten besteht, und wenn einer endet, kann die Beziehung ...

"Wenn aus einer Geliebten eine Freundin werden soll, darf man nie aufhören, sie zu lieben. Man muss sich klarmachen, dass eine Beziehung aus Abschnitten besteht, und wenn einer endet, kann die Beziehung als etwas anderes weiterbestehen. Die Liebe ist Konstante und Variable zugleich." - S. 422

Gabrielle Zevin entführt uns mit "Morgen, morgen und wieder morgen" in die aufregende Welt der Computerspielentwicklung der 90er-Jahre in Massachusetts. Sadie, eine hochbegabte Informatikstudentin, und Sam, ihr einstiger Super-Mario-Partner, durchleben eine kreative Achterbahn, die nicht nur ihr berufliches Schaffen, sondern auch ihre Freundschaft auf die Probe stellt.

Zevin, eine vielseitige Autorin mit internationalen Bestsellern, schafft es, die Atmosphäre der Zeit sowie die Dynamik der aufkeimenden Computerspielbranche einzufangen. Ihr Schreibstil, geprägt von klaren Momenten der Spannung und gelegentlichen Längen, verwebt geschickt Vergangenheit und Zukunft.

Aufgrund zahlreicher positiver Empfehlungen habe ich mich auf "Morgen, morgen und wieder morgen" eingelassen und wurde nicht enttäuscht. Gabrielle Zevin entführt die Leser:innen in die aufregende Welt der 90er-Jahre, in der Sadie, eine hochbegabte Informatikstudentin, und Sam, ihr früherer Super-Mario-Partner, gemeinsam an einem Computerspiel arbeiten. Die Autorin verwebt dabei geschickt Vergangenheit und Zukunft – die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte, was der Erzählung Tiefe verleiht. Die Einschübe aus verschiedenen Zeiten ermöglichen Einblicke in die Popkultur und die kreativen Herausforderungen der Protagonist:innen. Die Zeitreise durch die 90er-Jahre gelingt gut, und das Setting vermittelt authentisch das Lebensgefühl dieser Ära. Die Geschichte über Freundschaft, Arbeit, Liebe und die aufstrebende Computerspielbranche ist über weite Strecken spannend und amüsant.

Allerdings gibt es immer mal wieder Momente, in denen sich die Handlung zieht und Figuren auftauchen, bei denen nicht klar ist weshalb sie in die Handlung eingeführt wurden. Vor allem gegen Ende hat es sich ganz schön gezogen. Einige Passagen hätten gekürzt werden können, um den Lesefluss zu verbessern. Die Gaming-Thematik mag für manchen Geschmack überstrapaziert/too much wirken, ich fand es äußerst spannend, auch wenn ich selbst wenig Bezug dazu habe.

Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, auch wenn sie gelegentlich aufgrund des hin und hers nerven. Die philosophischen Fragen, die gegen Ende aufgeworfen werden, regen zum Nachdenken an und verleihen dem Buch eine gewisse Tiefe.

Insgesamt ist "Morgen, morgen und wieder morgen" eine lebendige Achterbahnfahrt durch das Leben der Protagonist:innen und die (Spiele-)Welt der 90er-Jahre, die mit ihren Höhen und Tiefen eine breite Palette von Emotionen anspricht und auch für Leser:innen ohne Gaming-Affinität zugänglich ist. Ich vergebe daher 4 von 5 Sternen.

"Was ist ein Spiel?", fragte Marx. "Es ist morgen, morgen und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung. Die Vorstellung, dass du, solange du weiterspielst, gewinnen kannst. Kein Verlust ist von Dauer, denn nichts ist von Dauer, niemals." - S. 471

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Veröffentlicht am 11.03.2024

Zwischen Sprachmacht und Diskurschaos: "Die Rassistin" im Universitätskarussell

Die Rassistin
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"Der verdammte Vorwurf! Für ein paar Minuten hat das Existentielle der Insemination das Existentielle des Vorwurfs überdeckt, und jetzt - Rischer stutzt, was ist eigentlich existentieller? Schwanger werden ...

"Der verdammte Vorwurf! Für ein paar Minuten hat das Existentielle der Insemination das Existentielle des Vorwurfs überdeckt, und jetzt - Rischer stutzt, was ist eigentlich existentieller? Schwanger werden oder gecancelt werden?" - S. 40

Nora Rischer, Dozentin in der Germanistik und inmitten der Behandlung in einer Kinderwunschpraxis, gerät durch eine rätselhafte E-Mail in einen Strudel von Selbstzweifeln und moralischen Abwägungen. Jana Scheerer entfacht in "Die Rassistin" eine schwarze Komödie, die nicht nur den Campus-Diskurs, sondern auch Nora's persönliche Identität auf den Prüfstand stellt.

Jana Scheerer, geboren 1978 in Bochum und lebend in Berlin, hat mit "Die Rassistin" einen Roman geschaffen, der sich dem Thema Diskriminierung und dem allgegenwärtigen Wunsch nach moralischer Reinheit auf ironische und tiefgründige Weise nähert. Mit einem Hintergrund in Germanistik, Amerikanistik und Medienwissenschaft sowie ihrer Erfahrung als akademische Mitarbeiterin an der Universität Potsdam, bringt sie eine einzigartige Perspektive in ihre literarische Arbeit ein.

Die Handlung des Romans nimmt Fahrt auf, als Nora Rischer, mitten in ihrer eigenen Lebenskrise, mit rassistischen Vorwürfen gegenüber ihrem Seminar konfrontiert wird. Die Erzählung wirft nicht nur Fragen nach persönlicher Verantwortung auf, sondern unterzieht auch den gesellschaftlichen Diskurs einer kritischen Analyse. In einer schwarzen Komödie aus menschlichen Reflexen und Widersprüchen entfaltet Scheerer eine Geschichte, die sich weigert, sich auf allzu bequeme Gewissheiten zurückzuziehen.

Meine Meinung zu "Die Rassistin" ist zweigeteilt. Auf der einen Seite schätze ich die auditive Darstellung verschiedener Perspektiven und Verhaltensweisen. Die Ironie und die bissigen Spitzfindigkeiten im Schreibstil sind nahezu genial, und die Autorin spielt geschickt mit den Erwartungen der Leser:innen. Andererseits war der Roman für meinen Geschmack etwas zu überladen, schwer zu verdauen und hat mich am Ende verwirrt&ratlos zurückgelassen.

Was mir persönlich gemischt aufstieß, war die Fülle an behandelten Themen. Obwohl die Vielfalt der Themen wie Rassismus, Alltagsdiskriminierung, Frauenfeindlichkeit und mehr ohne erhobenen Zeigefinger beleuchtet wird, fühlte ich mich zeitweise von der Überladung der Handlung überwältigt. Die ironischen und bissigen Spitzen im Schreibstil erforderten eine sorgfältige Verarbeitung, um die tiefgründige Bedeutung nicht zu übersehen.

Trotz der wichtigen Themen, die ohne erhobenen Zeigefinger behandelt werden, und der Anerkennung für die einzigartige Idee hinter dem Buch, konnte ich nur wenig aus dem Werk ziehen. Dies ist vor allem dem Schreibstil geschuldet, der nicht meinem persönlichen Geschmack entspricht, daher 3 von 5 Sternen.

"Das war weder eine Beleidigung noch rassistisch, glaubt mir doch, das war echt nicht rassistisch, wirklich nicht, überhaupt nicht rassistisch, rassistisch - jetzt empfindet Rischer sie doch, die semantische Sättigung, aber sie hilft gar nicht, das Wort kratzt ohne seine Bedeutung genauso schlimm, ihr wird kalt, ihr Herzschlag erhöht sich, das ist nicht auszuhalten, der Vorwurf muss aus der Welt, sofort..." - S. 47

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Veröffentlicht am 11.03.2024

Literarische Reise mit Schwächen: starke Charaktere, Handlung ausbaufähig und Rechtschreibung verbesserungswürdig

Die Bücherjägerin
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Es ist eine gefährliche Sache, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen. (S. 70)
Elisabeth Beers Debütroman ...

Es ist eine gefährliche Sache, aus deiner Tür hinauszugehen. Du betrittst die Straße, und wenn du nicht auf deine Füße aufpasst, kann man nicht wissen, wohin sie dich tragen. (S. 70)
Elisabeth Beers Debütroman "Die Bücherjägerin" führt uns durch die faszinierende Welt der introvertierten Sarah, einer Bücherjägerin, Kartensammlerin und Restauratorin. Die Geschichte beginnt nach dem Tod ihrer Tante Amalia, als der Bibliothekar Benjamin auftaucht, um eine alte römische Straßenkarte zu finden. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise, die nicht nur geografisch, sondern auch emotional und literarisch tief geht.

Die Autorin, Elisabeth Beer, 1989 in Westfalen geboren, verbindet in ihrem ersten Roman "Die Bücherjägerin" ihre Leidenschaften für Literatur und Reisen, nachdem sie Komparatistik studiert und in Berlin ihren Lebensmittelpunkt gefunden hat.

Die warmherzige und feinhumorige Erzählung widmet sich Themen wie Familie, Abschied, Liebe und der Magie der Bücher. Leider sind mir von beginn an einige Rechtschreibfehler ins Auge gestochen, die das Leseerlebnis getrübt haben - im Falle einer Neuauflage soltlen deise unbedingt korrigiert werden. zwei Beispiele:

unter den Ästen des Apfelbaums geschaukelt und wei springen auf den Rasen geübt (S.12)
Der Gedanke daran, dass ich Jean eine Karte geschickte hatte, um ihn zu Amalias Beerdigung einzuladen, versetzte mir einen Stich in der Brust. (S.61)
Ich finde es hingegen toll, dass sich die Autorin um diskriminierungsfreie Sprache bemüht. Allerdings gelingt ihr dies nur teilweise. Bspw. wird mehrmals "dunkle Haut" erwähnt, aber weiße Personen, nicht explizit als weiß ausgewiesen was sie zur Norm werden lässt. Einmal ist auch von "Idiotie" die rede. Einem Ausdruck, der mit den Gräueln des 2. Weltkriegs und den Verbrechen an Menschen die behindert wurden und werden in Zusammenhang steht und daher nicht verwendet werden sollte.

Das Buch behandelt jedoch wichtige Themen wie Rassismus, Feminismus, Krankheit, Vielfalt und Diversität, Kapitalismus, Patriarchat und Heteronormativität, Religion und Geschichtsschreibung. Besonders beeindruckend sind die Verweise auf zahlreiche andere Bücher, die die Leseliste erweitern und die Liebe zur Literatur vertiefen.

Die Idee mit den Listen (Liste zum Überleben, Ein paar Regeln das Reisen betreffend, Liste der Dinge, die mich erinnern) fand ich genial und bringt Abwechslung beim Lesen. Leider stört wiederum das uneinheitliche Gendern den Lesefluss. Die Intention der Autorin, durch die abwechselnde Verwendung von genderneutraler Sprache, Binnen-I, generischem Maskulin und feminin sowie dem Asterix (*) alle Leser:innen zufriedenzustellen und anzusprechen ist meiner Meinung nach nicht gelungen. Meinen Lesefluss hat es gestört und ich hätte es lieber einheitlich gehabt.

Schmunzeln musste ich über das Trauer-Modell nach Elisabeth Kübler-Ross, welches wir in der Uni auch gelernt haben - Toll fand ich die verweise auf zahlreiche andere Bücher - meine must-read Liste ist dank dem Buch um einige Bücher reicher. Die Charaktere waren sehr gut gezeichnet - allen voran hat mich die außergewöhnliche Protagonistin Sarah, die im Buch eine große Entwicklung durchmacht, verzaubert. Neues erfahren habe ich zum Thema "weiblicher Autismus". Ich habe bisher nie davon gehört, war allerdings wenig überrascht, dass der "gender health gap" auch hier zu finden ist nämlich indem Autismus bei Mädchen weniger oft und viel später diagnostiziert wird weil, mal wieder, hauptsächlich an Männern geforscht und die Symptome an ihnen festgemacht wurde.

An dieser Stelle möchte ich euch meine liebsten Textstellen nicht vorenthalten:

Der Riss, den das Verschwinden von jemandem reißt, wird nur durch die Zeit abgeschliffen an den Rändern, aber das Loch bleibt und lässt sich nicht wieder auffüllen. (S. 14/15)
"Ich wollte Ihnen noch mein Beileid aussprechen, Fräulein von Richtershofen", sagte er.
Ich wartete. Es entstand eine Pause.
"Generell sagt man dann Danke", sagte er schließlich.
"Generell haben Sie mir noch gar kein Beileid ausgesprochen, sondern es nur angekündigte", sagte ich. (S. 26)
Wenn man nicht früh lernt zu glauben, dass es noch Wunder gibt, dann lernt man es später gar nicht mehr. (S. 32)
Wir kriegen das schon hin. Was genau wir wieder hinkriegen mussten, hat sie nie so genau erklärt, aber es wurde zum neuen Takt unserer Kindheit, die Antwort auf alle Fragen, die Lösung für alle Probleme und in den ersten Jahren nach dem Tod meiner Eltern die einzige Konstante, an der ich mich festhalten konnte. (S. 37)
Das Wunder stand ihm ins Gesicht geschrieben, selbst ich konnte den Ausdruck kindlicher Freude darin lesen, als er eine Erstausgabe von Alice in Wonderland entdeckte. Er sah mich an, als hätte ich ihm höchst- persönlich die Wandschranktür nach Narnia aufgestoßen. (S. 41)
Es ist schwierig, den Menschen zu vertrauen, wenn alles, was du als Verbindung zu ihnen hast, ein Glaube in ihre Worte ist, als wäre die Welt aus Sprache gemacht. (S. 61)
Sprechen ist die einzige Möglichkeit, einander zu verstehen. Fragen zu stellen, den anderen ernst zu nehmen und zuzuhören (S. 83)
In den Büchern stecken unser aller Geschichten und all die, die noch hinzukommen, und auf sie aufzupassen, ist eine wichtige Aufgabe. (S. 84)
Stille und Ungesagtes sind genau wie Pausen in der Musik, sie sind ebenso wichtig wie die Tone selbst, um ein Stück zu ergeben, eine Geschichte zu erzählen. (S. 94)
Das ist einer der Gründe, warum ich Bibliothekar geworden bin, sagte er. Weil es so wichtig ist, dass wir uns erinnern, auch an die schrecklichen Dinge. Vielleicht gerade an die. Und weil ich sehen wollte, wie neues Wissen hinzukommt, andere Stimmen zu Wort kommen und ihre Geschichte erzählen. (S. 126)
Ein Ungeheuer zu sein, hat nichts mit dem Aussehen zu tun. Das Monster ist im Leben nicht immer der offensichtlichste Kandidat. Es ist wichtig, die eigenen Ängste nicht mit der Realität zu verwechseln. (S. 158)
Immer wenn ich das Meer sehe, denke ich an den Sternenhimmel. So oft, wenn wir etwas Schönes, leuchtend Helles sehen, vergessen wir die Dunkelheit, die es erst sichtbar macht. (S. 179)
Manchmal ist Trost so schmerzhaft wie die Wunde selbst. (S. 195)
Die Welt ändert sich nicht zum Besseren, wenn wir nicht selbst daran arbeiten. (S. 288)
Die Magie der Sprache steckt darin, dass gegen alle Unwahrscheinlichkeit jemand etwas erzählt, was jemand anderes verstehen kann. (S. 294)
Liebe ist das, was übrig bleibt, wenn alles andere verschwindet. (S. 315)


"Die Bücherjägerin" bietet einige schöne, lehrreiche und unterhaltsame Lesestunden. Dennoch plätschert das Buch so vor sich hin, es hat ein paar Spannungsbögen aber alles in allem hatte ich nicht den Drang es nicht mehr weglegen zu können. Im Gegenteil.: Teilweise haben sich die 360 Seiten sehr gezogen... Die Bewertung von 3 von 5 Sternen spiegelt die gemischten Gefühle wider.

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Veröffentlicht am 11.03.2024

"Echtzeitalter" bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück

Echtzeitalter
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"Echtzeitalter" von Tonio Schachinger entführt die Leser:innen in die Welt des jugendlichen Protagonisten Till Kokorda, der sich zwischen einem elitären Wiener Internat und seiner Leidenschaft für das ...

"Echtzeitalter" von Tonio Schachinger entführt die Leser:innen in die Welt des jugendlichen Protagonisten Till Kokorda, der sich zwischen einem elitären Wiener Internat und seiner Leidenschaft für das Echtzeit-Strategiespiel "Age of Empires 2" wiederfindet.

AUTOR
Der österreichische Autor, der in Wien und Nicaragua aufwuchs. erlangte 2019, nach seinem Studium der Romanistik und Germanistik an der Wiener Universität und Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst, mit seinem Debütroman "Nicht wie ihr" literarische Anerkennung, was ihm eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis einbrachte. Mit "Echtzeitalter", seinem zweiten Roman, gewann er diesen dann 2023. In diesem Gesellschaftsroman nimmt uns Schachinger mit durch die Gymnasialzeit von Til, dessen Jugend geprägt ist von Klassikerlektüre, Freiheitslust und Gaming. Zudem erfährt man als Leser:in einiges in Bezug auf die Herausforderungen (oder Chancen?), denen Schüler:innen 2020 im Zuge der Corona-Pandemie gegenüberstanden.

INHALT
Till, der jüngste Top-10-Spieler der Welt, jongliert mit den Herausforderungen des Internatslebens und seinem digitalen Ruhm. Nach dem Tod seines Vaters wird das Gaming für ihn nicht nur zum Hobby, sondern zur Notwendigkeit. In "Echtzeitalter" werden Themen wie Rassismus, Bildungssysteme, Identität, Patriarchat, und Virtualität aufgegriffen. Der Roman verspricht einen tiefen Einblick in die Jugend zwischen Tradition und Gaming-Kultur.

MEINUNG
Mein Blick auf "Echtzeitalter" ist gespalten. Die authentische Jugendsprache, wenn auch derb, trifft den Ton und schafft Identifikationspunkte. Die Verbindung zu "Age of Empires 2" weckte bei mir persönliche Erinnerungen an meine eigene Jugendzeit, Wien als Schauplatz fand ich genial und Wien als Stadt treffend porträtiert (S. 17):

Das Besondere an Wien sind die Wahnsinnigen mit bürgerlicher Fassade, die weitgehend funktionieren, aber nie von hier wegziehen könnten, weil ihr menschenfeindliches Verhalten in keiner anderen Stadt so wenige Konsequenzen hätte. Menschen, die eben nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern in geschützten Bereichen mit beschränkter Haftung ihren Jobs nachgehen: in Magistraten, Privatschulen oder bei der Polizei, auch wenn sie psychisch prekäre Leben führen.

Die literarische Gestaltung zeichnet sich durch Witz und treffende Beobachtungen aus, die in einem beinahe beiläufigen Ton eingefangen werden. Hier zeigt sich Schachingers Stärke in der Sprachkunst. Mein Highlight im Buch ist die Stelle mit dem "Bullshit-Bingo" (S. 166):

Sieben Schüler wetten jeweils fünf Euro auf ein Wort, und derjenige, dessen Wort der Dolinar am oftesten sagt, gewinnt. Die weniger Mutigen setzen auf Wörter, die sich gerade anbieten, wie Shakespeare oder Schularbeit, oder auf Ausdrücke, die der Dolinar einigermaßen verlässlich verwendet, wie bled oder Uh, Maria. Am besten funktioniert es aber erfahrungsgemäß mit einem Begriff, den man selbst einbringt und durch geschickte Gesprächsführung dem Dolinar möglichst oft in den Mund legt. Dabei kommt eine Technik zur Anwendung, die Fans des österreichischen Nachmittagsfernsehens vor allem aus der Barbara-Karlich-Show kennen: die Suggestivfrage.

Positiv hervorzuheben ist auch die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Themen wie Rassismus, unterschiedliche Bildungssysteme, Identität, Männlichkeit, Sexismus, soziale Klasse, Politik und Virtualität. Die literarischen Bezüge bieten zusätzliche Tiefe und haben meine persönliche Leseliste um ein paar Titel mehr erweitert.

Dennoch habe ich auch einige Kritikpunkte. Angefangen von der nicht genderneutralen Sprache, über das Fehlen eines Spannungsbogens bis hin zur emotionalen Kälte der Erzählperspektive, die mich nicht richtig warm haben werden lassen mit der Handlung und den Charakteren. Trotz des originellen Erzählstils fehlt es meiner Meinung nach auch an Struktur - alles was es an Struktur gibt sind die 8 Jahre Schulzeit, durch die wir Till begleiten. Auch die Vielzahl an Handlungsschauplätzen und Themen hat mich am Ende ratlos zurückgelassen und mir ist nicht klar, was genau die Intention des Autors am Ende war. Vielleicht hab ich aber auch nicht alles verstanden.

LIEBLINGSZITATE

Die Kunst des Nichtauffallens besteht darin, sich nicht an die eigene Individualität zu klammern und alles, was man mag oder wovon man glaubt, es sei einem wichtig, als austauschbar zu begreifen. Till ist ein Naturtalent darin. (S. 27)
Es ist, als hätte Till vor allen anderen, schon nach dem Ablegen in Southampton, ein mulmiges Gefühl gehabt, aber keine Möglichkeit mehr gefunden, die Titanic mit seinen Liebsten zu verlassen. Und jetzt, wo der Eisberg auftaucht, ist er schneller darin, die ganze Tragweite zu verstehen, steht aber nur paralysiert da. (S. 237)
Es liegt eine Freiheit darin, seine Ängste wahr werden zu sehen, denn Ängste, die wahr werden, hören auf, Ängste zu sein. (S. 289)
Februar, wenn die Erinnerung an den letzten Sommer längst verblasst ist und die Hoffnung darauf, irgendwann, im Mai vielleicht, wieder so etwas wie Wärme zu spüren, noch nicht glaub würdig erscheint. (S. 317)
Alles ist gut. Till ist glücklich. Er muss nie wieder in die Schule, nie wieder von Felis Seite weichen. Er weiß nicht, dass es keine Happy Ends gibt. Dass Menschen, die sich lieben, wie Punkte im Universum sind, so klein, dass sie eigentlich keine Fläche haben, so klein, dass man glaubt, sie wären einander nahe, obwohl zwischen ihnen Platz für unendlich viele weitere Punkte ist, zwei Punkte, die sich in Bewegung setzen, zur Linie wer- den, zu zwei Linien, wenn man hineinzoomt, zwei parallelen Linien. die sich im Verlauf der Zeit als nicht parallel erweisen, auseinander- driften, mit jeder Veränderung des Winkels oder der Geschwindigkeit, mit jeder fremden Linie, die sie kreuzen, jeder Widrigkeit und jeder Chance. (S. 326)

FAZIT
Die Vielzahl an Handlungsschauplätzen machte es mir am Ende schwer zu verstehen, was das Buch eigentlich erzählen will. Trotz der präzisen Darstellung des Schulalltags und der Gamingwelt vermisse ich eine klare Intention, die mich durch die Geschichte führt. Ich kann den Hype um den Deutschen Buchpreis leider nicht nachvollziehen und vergebe 3 von 5 Sternen.

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Veröffentlicht am 09.03.2024

Babas Schweigen – Zwischen Familiengeheimnissen und der Suche nach Identität

Babas Schweigen
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"Wir sind noch nicht weit gefahren und trotzdem lassen der karge Munzur und der Fırat eine tiefe Sehnsucht entstehen. Sehnsucht wie Özlem. Jetzt weiß ich, warum ich so getauft wurde. Ich bin das Kind, ...

"Wir sind noch nicht weit gefahren und trotzdem lassen der karge Munzur und der Fırat eine tiefe Sehnsucht entstehen. Sehnsucht wie Özlem. Jetzt weiß ich, warum ich so getauft wurde. Ich bin das Kind, das in der Sehnsucht entstanden und geboren ist." - Buchzitat (S.91)

Özlem Çimen entfaltet in ihrem Debütroman "Babas Schweigen" eine zutiefst emotionale Reise durch die Identität einer Familie. Die Geschichte wird aus der Sicht der Protagonistin aufgeblättert, die sich unerwartet der eigenen Vergangenheit stellen muss.

Die Autorin, selbst aufgewachsen in der Schweiz, begibt sich als Erwachsene zurück in das ostanatolische Dorf ihrer Kindheit. Die Sommer, einst von unbeschwerter Freude geprägt, werden zum Schauplatz einer schmerzhaften Enthüllung. Durch einen beiläufigen Kommentar ihres Onkels erfährt Çimen, dass das Dorf einst von Armenier:innen bewohnt war – eine Tatsache, die sie nie zuvor in Erwägung zog. Dieser Moment des Erwachens setzt eine intensive Forschungsreise in Gang, die sie schließlich dazu bewegt, das lang gehütete Schweigen ihres Vaters zu brechen.

Das Buch, obwohl kurz, entfaltet sich immer aus der Perspektive der Protagonistin in drei Zeitebenen: der Kindheit in den 90ern, der Erkenntnis im Jahr 2013 und der endgültigen Konfrontation im Jahr 2022. In knappen Kapiteln verwebt Çimen Kindheitserinnerungen mit gegenwärtigen Stimmungsbildern und schafft so ein facettenreiches Bild ihrer Familiengeschichte.

Die Erzählung ist geprägt von subtilen Hinweisen, die sich nach und nach zusammensetzen. Die Protagonistin durchlebt eine Achterbahn der Gefühle, von der Unschuld der Kindheit bis zur schmerzhaften Wahrheit über den Völkermord an den Armenier:innenn. Dabei werden nicht nur persönliche Familiengeheimnisse, sondern auch die kollektive Geschichte einer Minderheit enthüllt. Die kulturellen Elemente, eingewoben in die Geschichte, verleihen dem Werk eine besondere Authentizität. Çimen beschreibt mit Liebe zum Detail die aprikosenbestandenen Landschaften, kulinarische Genüsse und traditionelle Bräuche. Die Verwendung der zazakischen Sprache in den Kapitelüberschriften (hêkete, cirestiş ...) trägt zur kulturellen Tiefe bei und vermittelt einen Einblick in die Vielschichtigkeit der Erzählung. Die Sprache ist einfühlsam und poetisch, ohne dabei an Präzision zu verlieren. Besonders gelungen ist die Integration von humorvollen Momenten, die die Schwere des Themas auflockern. So hat mich die kurze Sequenz mit den Sonnenkernen erheitert, weil ich mich selbst auch in der Situation von Felix gesehen hab, als ich mich zum ersten Mal an die Kerne gewagt habe: "Das Knabbern von Sonnenblumenkernen ist so etwas wie ein Nationalsport. Die Schalen werden auf einen Haufen gespuckt. Dabei geht es darum, den größeren Haufen zu produzieren als die anderen" (S. 16)

Die finale Konfrontation des Vaters und die darauffolgende Friedensschließung der Protagonistin mit der Familiengeschichte hinterlassen einen starken Eindruck: "Wir werden viele Geschichten hören, die wir nicht immer verstehen werden. Vielleicht werden wir eines Tages alle Zusammenhänge begreifen, die für uns im Moment noch im Verborgenen sind." (S.90) Für mich war er allerdings zu kurz gegriffen und zu aprubt.

"Babas Schweigen" ist eine literarische Perle, die Geschichte, Kultur und persönliche Entdeckungen in einem harmonischen Geflecht verbindet. Als Leser:in wird man mit auf eine emotionale Reise genommen, die nachdenklich stimmt und zum Verständnis transgenerationaler Traumata beiträgt. Özlem Çimens "Babas Schweigen" verdient 4 Sterne (einen Stern Abzug wegen dem Ende) für seine tiefe Emotionalität, kulturelle Authentizität und subtile Enthüllung familiärer Geheimnisse. Ein Buch, das trotz seiner Kürze nachhaltige Eindrücke hinterlässt.

Das Buch ist ein Rezensionsexemplar. Dies hat die Meinung jedoch nicht beeinflusst.

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