Eine verstorbene Ehefrau und eine gestohlene Brieftasche.
„Die Asche des Tages“ von Máirtín Ó Cadhain spielt in Irland und ist ein Band einer interessanten Reihe die der Kröner Verlag herausgibt.
Diese Reihe umfasst Werke von international bedeutenden Schriftstellern, ...
„Die Asche des Tages“ von Máirtín Ó Cadhain spielt in Irland und ist ein Band einer interessanten Reihe die der Kröner Verlag herausgibt.
Diese Reihe umfasst Werke von international bedeutenden Schriftstellern, die leider in Vergessenheit geraten sind.
Máirtín Ó Cadhain ist in Deutschland wenig bekannt, was vielleicht daran liegen mag, dass er in irischer Sprache geschrieben hat und lange nicht übersetzt wurde.
Die Ehefrau von N. ist heute Morgen nach langer Krankheit verstorben.
N. ist noch im Büro und er muss dringend nach Hause, um die Beerdigung vorzubereiten und die Trauerfeier und alles drumherum zu organisieren.
Der Gedanke an die Kosten dafür liegt ihm schwer im Magen. Er hofft auf Vergünstigungen und Rabatte.
Was bzw. wer ihm auch schwer im Magen liegt, das sind die beiden Schwestern seiner Frau, die zu Hause auf ihn warten, um gemeinsam alles zu regeln.
Er und seine Schwägerinnen sind sich nicht besonders sympathisch. Sie werfen ihm vor, sich nicht genug um seine kranke Frau gekümmert zu haben und beäugen ihn argwöhnisch.
Er hält seine Schwägerinnen für zwei alte gehässige Zicken und ist froh, wenn er nichts mehr mit ihnen zu tun hat.
Der Protagonist wirkt irgendwie abgebrüht, kaltherzig und sarkastisch, die Handlung überspitzt und absurd.
N. ist im Büro und arbeitet, obwohl seine Frau vor wenigen Stunden verstorben ist.
Er eilt nicht sofort nach Hause, sondern findet noch hundert Sachen, die wichtiger sind.
Er denkt nur an die Kosten und fragt sich allen Ernstes, ob die Beerdigung seiner Frau eigentlich etwas anderes ist, „als eine tote Maus unter die Erde zu bringen“. (S. 12)
Er geht ins Wirtshaus und überlegt, am Nachmittag noch einen schon lange vereinbarten geschäftlichen Termin mit einem Fernsehteam wahrzunehmen.
Er denkt an eine Schreibmaschine, die ihm schon lange im Kopf herumgeht und will in einem Warenhaus einen Heizstrahler kaufen.
Und zu allem Überfluss wird ihm genau in diesem Warenhaus seine Brieftasche gestohlen.
Wie soll er nun die anstehende Beerdigung bezahlen?!?!
Dann überlegt er, ob er die Geschichte seines Lebens niederschreiben soll. Beginnend mit dem Tag, an dem seine Frau starb und er ausgeraubt worden war.
... und dann hat er aufgrund einer kurzen Begegnung eine brillante Idee: eine gewonnene Pferdewette könnte doch einen Teil seines Verlustes kompensieren. Den Einsatz von ein paar Münzen findet er in seiner Jackentasche.
Übersprungshandlungen, absurde Gedankenkonstrukte und Ausflüge in fantastische Welten lenken N. von der Realität ab.
Er versucht auf Teufel komm raus, die Konfrontation mit dem Hier und Jetzt hinauszuzögern.
Er schiebt und schiebt und schiebt. Nur nicht nach Hause!
Nur nicht den verhassten Verwandten begegnen!
Nur nicht die Aufgaben in Angriff nehmen müssen!
Ob er letztlich Verantwortung übernimmt und seinen Verpflichtungen nachkommt, erzähle ich natürlich nicht.
Aber es lohnt sich, es herauszufinden!
Ist N. tatsächlich abgebrüht, kaltherzig und sarkastisch oder ist er nur völlig durcheinander und überfordert?
Er scheint den Boden unter den Füßen zu verlieren, wirkt gelähmt und wie erdrückt von seinen Geldsorgen.
Ist es Verleugnung, Verdrängung oder schlicht das, was wir alle mehr oder weniger kennen und „Aufschieberitis“ nennen?
Ich denke, wir haben es hier mit einem Menschen zu tun, der ein schwerwiegendes psychisches Problem namens „Prokrastination“ hat.
Der Begriff meint, dass Menschen aufgrund von Versagensängsten und Angst vor Kritik anstehende Aufgaben hinauszögern und aufschieben.
Daneben kann aber auch eine Rolle spielen, dass sie unrealistische Ziele verfolgen oder falsche Prioritäten setzen. Manchmal sind sie auch schlecht strukturiert und haben Schwierigkeiten mit der Zeiteinteilung.
Der 1906 bei Galway in Irland geborene Máirtín Ó Cadhain hat mit „Die Asche des Tages“ eine unglaublich detaillierte, scharfsinnige und psychologisch stimmige Beschreibung eines Mannes vorgelegt, der sich m. E. mit dem ernst zu nehmenden Problem der Prokrastination herumschlägt. Der Autor hat dies zwar auf sehr zugespitzte, fast schon absurd anmutende Weise getan, aber mit diesem Stilmittel wird besonders deutlich, um welches Problem es sich handelt.
Vergessen wird man N. und seine Geschichte genau wegen dieser akzentuierten Eindrücklichkeit und Absurdität ganz bestimmt nicht so schnell.
Die Lektüre des schmalen Bändchens ist ein außergewöhnliches, wuchtiges und originelles Leseerlebnis, das oberflächlich grotesk und skurril anmutet, hinter den Kulissen aber tiefgründig, ernst und traurig ist UND gleichzeitig mit einem gewissen Witz aufwartet.