Als ein Gespenst das Fürchten lernte
Zum ersten Mal habe ich die Geschichte gelesen, da war ich vielleicht zehn oder elf. Zu dem Zeitpunkt war mir noch gar nicht klar, dass das eine "alte" Geschichte ist. Ich konnte lachen, das Gespenst bedauern, ...
Zum ersten Mal habe ich die Geschichte gelesen, da war ich vielleicht zehn oder elf. Zu dem Zeitpunkt war mir noch gar nicht klar, dass das eine "alte" Geschichte ist. Ich konnte lachen, das Gespenst bedauern, mit den Zwillingen Unsinn ausdenken ... das ist für Kinder eine extrem spannende Angelegenheit. Und jetzt, erwachsen, habe ich einen Re-Read gestartet, schon ein bisschen mit der Angst verbunden, dass es mir nicht mehr gefallen könnte. Doch die Angst war grundlos. Ich liebe diese Geschichte noch immer.
Der Inhalt ist schnell erzählt: Hiram B. Otis ist ein Amerikaner, ein moderner, aufgeklärter Botschafter, der sich das Anwesen Canterville kauft. Die fairen Engländer warnen ihn. Dieses Schloss beherberge ein Gespenst, einen Geist, der schon unzähligen Bewohnern und Besuchern graue Haare (und Schlimmeres!) verschafft hat. Doch einen Amerikaner kann das nicht erschüttern - und tatsächlich ist das so. Als das Gespenst - Sir Simon de Canterville - erscheint, lässt sich niemand der neuen Bewohner die Butter vom Brot nehmen. Im Gegenteil. Es ist das Sir Simon, der das Fürchten (gerade vor Butter!) lernt. Die Zwillinge des Botschafters spielen ihm Streiche, der älteste Sohn rückt dem legendären Blutfleck mit einem genauso legendärem Fleckenmittel zu Leibe und der neue Hausherr selbst bietet dem kettenrasselnden Gespenst etwas Öl an, damit er nicht immer so einen Lärm machen muss. Erst die Tochter des Botschafters ist in der Lage, für ein Happy End zu sorgen - auf gesamter Linie ...
Es handelt sich hier um eine Art Märchen, und doch findet man (als Erwachsener) extreme Parallelen zur damaligen und auch heutigen Zeit. Dabei sprüht die Geschichte vor Humor und Slapstickeinlagen, die jedoch nie ins Alberne abrutschen. Und dass ein Happy End zu einem Märchen gehört, ist schließlich klar, und nicht nur Sir Simon de Canterville wird darüber glücklich sein ... Von daher kann ich das dünne Buch allen empfehlen: Kindern, Erwachsenen, Lesemuffeln - selbst Lesern, die sich wie ich bei Wildes Dorian Grey so sehr gelangweilt haben, dass sie in Tränen ausgebrochen sind. Die einzigen Tränen, die es hier geben wird, sind Lachtränen. Versprochen.