Poesiealbum als Kulturgut und böse Macht
Sei wie das Veilchen im Moose,
sittsam, bescheiden und rein
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein.
Auch in meinem Poesiealbum stehen diese Verse. Die Elsässerin Pascale Hugues ...
Sei wie das Veilchen im Moose,
sittsam, bescheiden und rein
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein.
Auch in meinem Poesiealbum stehen diese Verse. Die Elsässerin Pascale Hugues hat sich nach 50 Jahren daran gemacht, ihre alten Klassenkameradinnen ausfindig zu machen, die 1968 diesen und ähnliche Sprüche in das Poesiealbum geschrieben haben.
Vergiss nie Deine Heimat
Wo Deine Wiege stand.
Du findest in der Fremde
Kein zweites Heimatland.
Und auch dies steht in meinem Album und damit sind bereits zwei große Themen dieses Buches genannt: das Frauenbild der damaligen Zeit und die Rolle von Heimat und Fremde, gerade im Elsass ein eindringliches Thema.
Zwölf Mädchen von damals hat Hugues nach ihrem Lebensweg befragen können, sie sind ihrer Einladung zu einem Klassentreffen gefolgt - was als ebenso typisch deutsch wie untypisch französisch gilt, wie das Poesiealbum selbst.
Hugues führt in die besondere Zeit ein, in die die Mädchen hineinwachsen, die späten 1960er Jahre, die Zeit des Aufbruchs, der Pille und der Demonstrationen. Die Männer wollen die Welt verändern, aber bitte ohne die feministische Revolution zu weit zu treiben. Bei den Diskussionen sind es die Frauen, die die Sandwiches machen und die Aschenbecher leeren. Das erlebt die Autorin hautnah am Beispiel ihrer Mutter. (S. 135) In den Familien anderer Klassenkameradinnen stehen aufgrund von Einwanderung, hoher Kinderzahl oder Arbeitslosigkeit etc. ganz andere Themen im Vordergrund. Die überwiegende Anzahl der Mädchen an der kleinen Schule in Straßburg kommt aus sehr bescheidenen Verhältnissen.
Das Elsass mit seiner wechselvollen politischen Geschichte bildet einen ganz besonderen Hintergrund für diese Lebenswege. Hin und her gerissen zwischen den Franzosen und den Deutschen, dem Verbot mal der einen, mal der anderen Sprache und dem langsamen Sterben des Elsässischen, sehen sich die Bewohnerinnen dieses Gebietes auch von Zentralfrankreich jenseits der Vogesen eher abgeschnitten und misstrauisch beäugt.
Herausgekommen sind insgesamt interessant zu lesende Einblicke in die Lebensläufe einer Generation von Frauen, die es - wie fast immer und überall - besser machen wollte als die Generation davor. Die zeitliche und örtliche Verankerung der Poesiealbummädchen im Straßburg der späten 60er Jahren macht es um so spannender. Ich habe das Buch sehr gerne gelesen und mache mir erst jetzt tatsächlich klar, dass das Poesiealbum "ein heimtückisches Ding" ist. "Es kommt so lammfromm daher, aber es ist gefährlich. Es reflektiert die ganze Unterwürfigkeit, die von den Mädchen gefordert wurde. Ich frage mich, ob wir nicht unbewusst so einiges übernommen haben." (S. 198)