Ist es die europäische Geschichte der Zivilisation oder ist es die Geschichte der Zivilisation aus europäischer Sicht?
Die titelgebenden Ruinen und der Wiederaufbau in und nach 1945 haben tatsächlich nur eine einleitende Rolle. Viel mehr beschreibt Paul Betts den Wandel, also die angesprochene Erneuerung, die sich in Europa, ...
Die titelgebenden Ruinen und der Wiederaufbau in und nach 1945 haben tatsächlich nur eine einleitende Rolle. Viel mehr beschreibt Paul Betts den Wandel, also die angesprochene Erneuerung, die sich in Europa, aber auch in Asien und Afrika, von 1945 durch das zerstörte Mitteleuropa bis in die Ruinen Palmyras der 2010ner Jahre vollzieht. Dies mag unbedarfte Leser verwundern, denn eigentlich ist ja die Rede von europäischer Ruinen und europäischer Erneuerung. Mit Blick auf das Ende des Buches - nämlich Palmyra - lässt sich dies gut erklären, denn daran zeigt sich schon lange, bevor Betts Handlung einsetzt, die Wandlung von Zivilisation. Palmyra war zur ihrer Glanzzeit eine römische Stadt, weshalb der IS dort auch römische Ruinen zerstörte. Und im römischen Sinne war nun Zivilisation einmal dort, wo römisches Recht galt. So ist und war der Nahe Osten ein Begegnungsraum vieler Kulturen. Insofern lässt sich schon erahnen, dass die zeitliche als auch perspektivische Fokussierung dem Buch gut getan hat.
Betrachtet man den Status Quo in 1945 so fällt auf, dass eine europäische Erzählung auch in Afrika und Asien anknüpfen muss. Die europäischen Imperien hatten noch Kolonien oder wollten diese restaurieren - natürlich alles im Namen der Zivilisation. Dass sich diese Märchen der Kolonisierung spätestens mit dem Ende eben dieser Kolonien zeigte, ließ sich in diversen blutigen Kriegen erkennen. Aber auch Versuch vor und mit Ende ihrer Kolonien sämtliche kulturelle und materielle Substanz in die europäische Heimat zu retten. Heutige übervolle koloniale Archive und Museen sind dafür Zeugen. Und auch in Deutschland ist die Diskussion, um die Repatriierung der Benin Bronzen in breiter Öffentlichkeit ausgetragen worden. Mit dem aufkommenden Ost-West-Konflikt konkurrierten dann schon wieder europäische Mächte um die Gunst nun unabhängiger Afrikanischer Staaten. Aber eben auch der Ost-West-Konflikt ist ein Teil der europäischen Geschichte und wird folglich von Paul Betts abgehandelt.
Tatsächlich stellt sich dem geneigten Leser die Frage, ob es nun wirklich um die Geschichte europäischer Zivilisation geht oder nicht viel mehr um die Geschichte des Begriff der Zivilisation aus der europäischen Perspektive heraus. So oder so ist diese Darstellung wohl eine einzigartige Aufbereitung der übergreifenden Nachkriegsgeschichte aus einer europäischen Perspektive. Paul Betts vermischt galant die Erzählung vom Wandel der Imperien, Aufstieg neuer Staaten, die Schaffung internationaler Organisationen sowie den Ost-West-Konflikt mit ausgewählten Handlungen und Werken einzelner Personen. So entsteht eine eine dichte, stets aneinander anknüpfende Darstellung des Wandels der Zivilisation in und um Europa. Besonderes Lob muss auch den stilistischen Künsten des Autors gemacht werden: Selten verfügen Sachbücher von diesem Format über einen so guten roten Faden und selten werden Inhalte früherer Kapitel so gut aufgenommen und weiterverarbeitet. Bravo! Wer sich für Geschichte interessiert, dem sei diese Werk ans Herz gelegt.