Marode Konstrukte
"Die Menschen kommen ins Wanken, wenn sie ihre Wurzeln nicht kennen." S. 146
Das unter Denkmalschutz stehende Haus an der Amsterdamer Keizersgracht ist seit vielen Jahren im Familienbesitz der Wenkstermans ...
"Die Menschen kommen ins Wanken, wenn sie ihre Wurzeln nicht kennen." S. 146
Das unter Denkmalschutz stehende Haus an der Amsterdamer Keizersgracht ist seit vielen Jahren im Familienbesitz der Wenkstermans – voller nobler Reliquien und beerdigten Familienmitgliedern im angrenzenden Garten wartet es aber auch schon lange auf eine Restaurierung des Fundaments. Es ist von Holzfäule befallen und schwer am Wanken, Wasser füllt nach und nach den Keller. Naturphilosoph Bram Wenksterman liebt die Routine und die Tierbeobachtung in der Natur – er ist das, was die Philosophen als Stoiker betrachten; große Gefühlsausbrüche behagen ihm nicht sehr. Doch die Familie bedrückt ein dunkles, schmerzhaftes Familiengeheimnis – Frau Veerle kämpft seit vielen Jahren mit Depressionen, musste in die geschlossene Psychiatrie eingeliefert werden. Tochter Amber studiert Philosophie in Cambridge, ist aber dabei, ihr Studium sowie ihre Beziehung zu schmeißen. Kurzerhand zieht sie zurück in das Elternhaus – doch dort hat sich während der Abwesenheit von Veerle jemand schon eingenistet: Veerles jüngere Cousine Ella hat eine Affäre mit Bram und möchte den Platz der Mutter an der Keizersgracht einnehmen.
Für die Sanierung des Hauses sind mehrere Hunderttausend Euro fällig – Brams reicher Schwiegervater ist bereit, das Geld zu verleihen, aber nur, wenn endlich das unausgesprochene, vor sich hin rottende Familiengeheimnis an Amber getragen wird. Einem intensiven Kammerspiel ähnlich, spielt sich alles innerhalb von drei Tagen dem Höhepunkt zu – der Keller voller Wasser, gibt es eine Geburtstagsparty für Bram. Diese artet in einer Art emotionaler Läuterung aus und Veerle ist bereit, ihre Wunden zu reinigen und auszupacken.
Autorin Rinske Hillen hat Philosophie studiert, das merkt man ihrem bemerkenswerten Debüt an – kluge philosophische Einschübe treffen auf psychologische Sezierung der zerrütteten Familie. Das faulende Haus steht dabei metaphorisch zum Verfall verschiedener Konstrukte. In wunderschönen Sprachbildern vereint der Roman die Themen Vertrauensbruch, Verfehlungen, aber auch die schmerzhafte Abnabelung von den Eltern. Und welch unterbewusste Blockierung Verschwiegenes innerhalb einer Familie bewirken kann. Dabei kommt man den Figuren zwar nicht wirklich nahe, die Perspektive ist zu distanziert – aber mit einer grandios subtilen Spannung gewinnt der Leser einen intimen und direkten Einblick in gescheiterte Lebensentwürfe bis zum konsequenten Ende, wenn alles zusammenbricht. Detaillierte und atmosphärische Beschreibungen des alten Grachtenhauses sind verwoben in menschliche Seelenabgründe und Verstrickungen.
Rinske Hillen wurde mit „Das Haus an der Keizersgracht“ mit dem niederländischen Debütantenpreis ausgezeichnet. Ich bin gespannt, was noch von der Autorin kommen wird.
„Sie hatte einmal gelesen, dass wir wie gestrandete Fische am Ufer sind, die versuchen, sich auf dem Trockenen gegenseitig feucht zu halten. Statt frei und selbstständig im Meer zu schwimmen.“ S. 228