Literaturgeschichtlich und historisch interessant
REZENSION – Zwölf Jahre nach seinem Roman „Marienbrücke“ (2009), gefolgt von mehreren Sachbüchern, hat Schriftsteller Rolf Schneider (89) im August mit „Janowitz“ eine wunderbare Romanbiografie im Osburg ...
REZENSION – Zwölf Jahre nach seinem Roman „Marienbrücke“ (2009), gefolgt von mehreren Sachbüchern, hat Schriftsteller Rolf Schneider (89) im August mit „Janowitz“ eine wunderbare Romanbiografie im Osburg Verlag veröffentlicht, die sowohl literaturgeschichtlich Interessierten als auch Freunden historischer Romane gleichermaßen gefallen dürfte. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des politischen Wandels in Böhmen mit Beginn des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch des Habsburger Kaiserreichs, die Jahre der tschechischen Republik, dem Einmarsch deutscher Truppen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs behandelt der Roman im Kern den Jahre andauernden Konkurrenzkampf zweier Schriftsteller, des Lyrikers und Romanciers Rainer Maria Rilke (1875-1926) und des Journalisten und Literaturkritikers Karl Kraus (1874-1936), von 1899 bis 1936 Herausgeber der satirischen Zeitschrift „Die Fackel“, um die Gunst der um Unabhängigkeit und Emanzipation bemühten böhmischen Adligen und Salonnière Sidonie Freiin Nádherná von Borutín (1885-1950) auf Schloss Janowitz im Süden Prags.
Beide Literaten kennen sich, treffen sich auch bei Besuchen auf Schloss Janowitz, halten aber respektvollen Abstand voneinander im Wissen um ihre Konkurrenz und gegenseitige Missgunst: „Rilke empfand die Anwesenheit des zwei Jahre älteren Kraus als eine lästige Störung, da er selbst es gewohnt war, im gesellschaftlichen Mittelpunkt allein zu stehen. Kraus beanspruchte das Interesse der anderen durch seine bloße Anwesenheit.“ Beide widmen der zehn Jahre jüngeren Sidonie romantische Verse, doch beider Verhältnis zu ihr ist so unterschiedlich wie ihr Charakter: Rilke mit Sympathie für die Aristokratie, begrüßt 1914 den Beginn des Weltkriegs, ist im Grunde aber unpolitisch. Nicht nur in seinen Ansichten, auch literarisch bildet er den Gegenpol zu Nebenbuhler Kraus, der als überzeugter Pazifist Rilke als „uniformtragenden Neurastheniker“ verachtet und als scharfzüngiger Literaturkritiker bei vielen verhasst ist. „Kraus' Prosa war gelenkig, doch fehlte ihr jene Behutsamkeit, die ihm, Rilke, im Übermaß zur Verfügung stand.“ Kraus wiederum „entschloss sich, das aufwendige Wortgeklingel des Dichters endgültig nicht zu mögen.“
Der Romantiker Rilke, voller Verehrung für die junge Baroness, ist für sie nur „ihr erster, ihr wahrer Freund“ und ein bewundernswerter Lyriker. Mit Kraus pflegt sie dagegen eine sexuelle Beziehung, lehnt aber seinen Heiratsantrag ab. Einerseits folgt sie damit dem Selbstverständnis ihrer aristokratischen Herkunft, nur einen Adligen heiraten zu dürfen, andererseits folgt sie auch der Warnung Rilkes vor der Heirat mit einem Juden: „Es ist das Jüdische an Karl Kraus, Sidie, was sein Stil ist und was allein seine Wirkung macht und seinen Erfolg.“ Kraus ist verbittert: „Sie wollte ihn herabstufen zu einem Gesellschafter für ihre kulturellen Bedürfnisse, vergleichbar Rilke oder dem sogar noch nachgeordnet.“
Schneiders Roman „Janowitz“ schildert ein höchst interessantes Kapitel deutscher Literaturgeschichte, sowohl spannend als auch unterhaltend zu lesen. Wer meint, Literaturgeschichte sei nur etwas für wissenschaftlich Interessierte, wird mit dieser empfehlenswerten Romanbiografie eines Besseren belehrt. Auch wer Biografie und Werke beider Literaten nicht kennen sollte, braucht sich vor der Lektüre von „Janowitz“ nicht zu scheuen, lernt er doch beide in ihrem Charakter und ihren wichtigsten Werken in Schneiders Romanbiografie ausreichend kennen – den Lyriker Rainer Maria Rilke mit seinen Versen und den Zyniker Karl Kraus mit seinen satirisch-kritischen Kommentaren. Nicht weniger interessant als Charakter ist beider Freundin Sidonie: Mit ihrem tragischen Lebensverlauf bis hin zur 1948 erfolgten Enteignung des Schlosses Janowitz kann die in jungen Jahren als Salonnière von Künstlern Umschwärmte und als Frau von Männern Verehrte - am Ende eines erfolglosen Kampfes um Selbstständigkeit und Unabhängigkeit schließlich in Armut und Einsamkeit lebend – im Alter als Frau nur bemitleidet und als Symbol für den Untergang der Habsburger Monarchie und des österreichischen Adels gesehen werden.