Weiterleben nach dem Anschlag
Es gibt Daten, die brennen sich ins Gedächtnis ein - der 11. September, der Tag des Mauerfalls. Aber eben auch der 19. Februar, der Tag des Terroranschlags von Hanau. Vielleicht nicht so global, aber für ...
Es gibt Daten, die brennen sich ins Gedächtnis ein - der 11. September, der Tag des Mauerfalls. Aber eben auch der 19. Februar, der Tag des Terroranschlags von Hanau. Vielleicht nicht so global, aber für die Menschen im Rhein-Main-Gebiet war es ein Tag, der das Gefühl von Sicherheit in der multikulturellen Gesellschaft der Region nachhaltig erschüttert hat. Das gilt um so mehr für Menschen wie Said Etris Haschemi: Er überlebte den Anschlag in der Arena-Bar schwerverletzt, sein jüngerer Bruder Nesar wurde getötet, ebenso wie acht andere junge Menschen an den beiden Tatorten. Sein Buch "Der Tag, an dem ich sterben sollte", ist eine Auseinandersetzung mit dem Anschlag und seinen Folgen, mit den Fragen der Angehörigen und Freunde, die im Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags nicht zu ihrer Zufriedenheit beantwortet wurden.
Hashemi hat mit der Initiative 19. Februar zusammengearbeitet, und das merkt man dem Buch teilweise an - immer dann, wenn Aktivist*innensprech und -dialektik die Erzählung überlagert. Viel eindringlicher sind die Teile des Buches, in denen er seine Erinnerungen an den Anschlag, die Zeit im Krankenhaus, die Trauer und das Trauma im Hanauer Stadtteil Kesselstadt schildert, in dem die Opfer lebten, in dem der Täter lebt und wo der Vater des Täters noch immer mit seinem aggressiven und feindseligem Verhalten Angehörige der Familien bedrängt. Das macht klar - Überleben heißt nicht einfach weiterleben, das ist unmöglich.
Hashemi zeigt die Verletzungen der Familien, die nicht nur Kinder, Geschwister, Freunde verloren haben, sondern sich auch von der Polizei und den Behörden im Stich gelassen fühlten. Ob das nun an rassistischen Grundhaltungen lag, wie die Initiative gerne unterstreicht, oder an schlichter Überforderung in einer Situation, wie sie auch die Polizisten und Rettungsdienste vor Ort noch nicht erlebt haben, macht für die Betroffenen vermutlich keinen Unterschied. Im Umgang mit den Familien ließen es die Behörden in der Tatnacht und den Tagen danach wohl an Sensibilität fehlen. Und manche Clashs waren vermutlich unüberwindbar - hier die Staatsanwaltschaft, die die Leichen für Obduktionen beschlagnahmte, da religiöse Vorschriften des Islam, dass Tote eigentlich innerhalb von 24 Stunden beigesetzt werden müssen.
Und immer wieder geht es auch um den Untersuchungsausschuss, im dem Hashemi und viele Angehörige Dauerbesucher waren, wo sie sich dem Narrativ von einem psychisch kranken Einzeltäter entgegenstellten, wo sie Versäumnisse wie den nicht besetzten Notruf und den verschlossenen Notausgang in der Arena-Bar anprangerten. Dass zumindest ein Teil der Toten unter anderen Umständen Flucht- und Überlebenschancen gehabt hätte, muss gerade für die betroffenen Familien extrem bitter sein.
Mit seinem Buch gibt Hashemi einen Eindruck vom davor und danach in seinem Leben, aber auch dem vieler migrantischer Menschen in Hanau und Region. Ein wenig geht es auch um migrantische Biografien, Ausgrenzungserfahrungen und Selbstbehauptung. Das Buch erscheint nur wenige Wochen vor dem vierten Jahrestag des Anschlags, an dem es nicht nur in Hanau heißen wird: Say their names.