Kriegstagebuch aus der Distanz
Es gibt Tagebuchschreiber, die halten ihre persönlichsten Gedanken nur für sich fest - und andere, die schreiben bereits mit dem Gedanken an ein (Lese-)Publikum. Saul Friedländers eher analytisch als persönliches ...
Es gibt Tagebuchschreiber, die halten ihre persönlichsten Gedanken nur für sich fest - und andere, die schreiben bereits mit dem Gedanken an ein (Lese-)Publikum. Saul Friedländers eher analytisch als persönliches Tagebuch "Israel im Krieg" gehört eindeutig in die zweite Kategorie. Der renommierte Historiker weiß um die historische Tragkraft der Ereignisse, über die er, ausgehend vom 7. Oktober, schreibt. Und er hat von Anfang an den Gedanken, seine Beobachtungen, Analysen, Eindrücke in Bezug auf das zuvor veröffentlichte Tagebuch zur Innenpolitik Israels im Streit um die Justizreform fortzusetzen, denkt an eine Veröffentlichung beider Texte in einem Band.
Was Friedländers Tagebuch etwa von dem vor wenigen Wochen veröffentlichten Tagebuch Dror Mishanis unterscheidet - das Persönliche wird stark zurückgenommen, Friedländer beobachtet die Entwicklung in seiner Heimat mit dem Blick eines Wissenschaftlers, weniger eines Betroffenen. Der Ansatz ist distanziert, buchstäblich: Friedländer lebt in den USA, die Stimmung in Israel kann er also nicht so unmittelbar spüren, er verfolgt die israelischen Medienberichte, beobachtet und analysiert.
Persönlich wird - neben dem Erschrecken über die Details, die nach und nach zu den Massakern und den Lebensumständen der Geiseln bekannt werden, dem Mitgefühl mit dem Leid der Menschen in Gaza - vor allem die zunehmend antisemitische Stimmung in den USA und in Europa kommentiert. Das gilt insbesondere für die Entwicklung an den US-Hochschulen, lehrte doch Friedländer jahrelang an der UCLA. Zugleich wendet sich Friedländer, der nicht nur ein bekannter Holocaust-Forscher ist, sondern selbst ein Überlebender, dessen Eltern in Auschwitz ermordet wurden, energisch gegen eine Relativierung oder Instrumentalisierung der Schoah im Zusammenhang mit Hamas-Terror und Gaza-Krieg.
Immer wieder gerät das Tagebuch zur Abrechnung mit politischen Fehlern der Regierung Netanjahu, die die Gefahr durch die Hamas herunterspielte, auch wenn das nicht das Versagen der Sicherheitsdienste am 7. Oktober und in seinem Vorfeld entschuldigt. Kritisch setzt sich Friedländer insbesondere mit den ultranationalistischen Mitgliedern der Regierungskoalition auseinander, alle voran Polizeiminister Itamar Ben-Gvir ("der böse Clown") und Finanzminister Smotrich, mit den radikalen Siedlern und ihrem Beitrag an der Eskalation im Westjordanland. Immer wieder denkt er über ein Szenario für die Zeit nach dem Krieg nach und plädiert dabei nachdrücklich für eine zwei-Staaten-Lösung.
Das Tagebuch endet im Frühjahr 2024, vieles, worüber Friedländer zu diesem Zeitpunkt noch als mögliches Risiko nachdenkt, hat sich seitdem verschärft, etwa der Krieg gegen die Hisbollah und die Konfrontation mit dem Iran. Friedländers Schlussfolgerung bleibt aktuell: "Das einzige Licht am Ende dieses Tunnels ist die Möglichkeit, einen ziellosen Krieg zu beenden und damit die Geiseln zu retten, die noch gerettet werden können, der Zivilbevölkerung in Gaza Erleichterung zu verschaffen und schlussendlich die Idee eines palästinensischen Staates zu akzeptieren."