Über den Wahn des Krieges, der Liebe und der Psyche
Das 20. Jahrhundert war eine Katastrophe, "oder genauer vielleicht: ein großer Wahn. Womöglich erwachen wir eines Tages und stellen fest, dass es sich um eine psychotische Episode handelte, die wir abschließen ...
Das 20. Jahrhundert war eine Katastrophe, "oder genauer vielleicht: ein großer Wahn. Womöglich erwachen wir eines Tages und stellen fest, dass es sich um eine psychotische Episode handelte, die wir abschließen sollten. Aber von dort aus, wo wir heute stehen, scheint das Ganze kein Ende zu nehmen."
Die Ausprägungen des Wahns, die in diesem Roman zum Vorschein kommen, sind sehr vielfältig, genauso vielfältig, wie die Anzahl verschiedener Szenen und Erinnerungen zwischen denen der Autor umherspringt. Vorrangig geht es um Hendricks, ein Mensch, für den die Einsamkeit Normalität zu sein scheint. Eines Tages erhält dieser einen Brief des ihm bis dato unbekannten Psychiaters und Kollegen Dr. Pereira, der ihn um einen Besuch auf seiner kleinen französischen Insel bittet, einen Nachlassverwalter sucht und in seinen alten Tagebüchern etwas über Hendricks Vater gefunden hat.
Sein Vater hatte ihn schon früh verlassen, eigentlich kann er sich kaum noch an ihn erinnern, so wie an vieles andere. "Von dem, was dann geschah, habe ich bis heute nur ein verworrenes Bild. Viele Jahre lang habe ich versucht, eine Abfolge von Ereignissen zu verstehen, bei der die Zeit zusammenbrach, und bin daran gescheitert."
Durch die Gespräche mit Dr.Pereira arbeitet Hendricks seine verdrängte Vergangenheit und Erinnerungen neu auf. Er geht wieder auf Menschen zu, wird nahbarer und empfänglicher für Gefühle. "Wir dürfen bereits nachgewiesen haben, dass ein Großteil der menschlichen Persönlichkeit durch die Art und Weise geformt wird, wie sie sich erinnert. Wohlgemerkt, nicht an was sie sich erinnert, sondern wie sie sich erinnert."
Wir bewegen uns zwischen Kriegserlebnissen, Wiedersehen alter Freunde, Arbeit, psychischen Erkenntnissen, beruflichen Vorhaben und Zielen, Sex, Vorlieben und Beziehungen zu verschiedenen Frauen ... die Anzahl der behandelten Themen ist gar riesig. Die immer wieder einfließenden psychiatrischen Erkenntnisse und Erforschungen der damaligen Zeit sowie tiefgründigen Abschnitte über das Leben und die Psyche machen dieses Buch zu etwas Besonderem. Sebastian Faulks schafft es innerhalb kurzer Zeit eine mitfiebernde Spannung zu erzeugen. Die Beschreibungen des Krieges gegen die Deutschen sind sehr intensiv und bildhaft, allerdings widmen wir uns danach wieder anderen Themen und die Spannung ist mehr oder weniger schlagartig verflogen. Manchmal hat man das Gefühl, es wäre eine reine Abarbeitung von Themenkomplexen und Einschüben, die dem Autor immer mal wieder einfallen. Es ist leider kein thematisch fokussierter und aufeinander aufbauender Roman, was das Verständnis etwas erschwert. Des Weiteren empfinde ich Hindricks "Liebeswahn" und die Beschreibungen weiblicher Schenkel auch eher störend als unterstützend. Alles in allem ist es ein guter Roman, der allerdings noch viel mehr Potenzial gehabt hätte.