Vom Glauben, Wissen und Fühlen
Tübingen, 1408. Ein finsterer Geselle schleicht durch die nächtlichen Straßen der Stadt, er hat einen Sack bei sich und er will töten.
Gleichzeitig in Konstantinopel. Olivera arbeitet mit ihrer Großmutter ...
Tübingen, 1408. Ein finsterer Geselle schleicht durch die nächtlichen Straßen der Stadt, er hat einen Sack bei sich und er will töten.
Gleichzeitig in Konstantinopel. Olivera arbeitet mit ihrer Großmutter in der Offizin, der Salbenküche, und ist ungeduldig: viel zu alt findet sie sich mit ihren schon 16 Jahren dafür, dass sie von ihrem griechischen Vater immer noch nicht verheiratet wurde, da dieser warten möchte. Und das, während gerade der heimliche Schwarm der jungen Frau zu Gast ist, der deutsche Fernhändler Laurenz Nidhard, mit seinem für sie ungewöhnlichen rotblonden Haar. Doch ihn verbinden Geschäfte mit Oliveras Vater, von denen die Männer den Frauen lieber nicht erzählen.
Fast hat man den Einstieg in das Buch vergessen, während sich die Handlung zwischen den jungen Leuten als Liebesgeschichte mit leidenschaftlichen Details entfalten könnte; nicht unbedingt mein Genre, selbst wenn es sich um einen historischen Roman handelt: zu häufig ist das historische nur das „Feigenblatt“ für schlicht einen Liebesroman mit viel Kitsch und wenig historischem Anteil. Nicht so hier, die Kombination aus Kriminalroman mit sehr viel historischem Hintergrund, speziell auch zum Thema der Salbenküche, und, ja, auch einem Anteil an Liebesgeschichte hat mir viel Freude bereitet. Mich belustigte, wie viele „wärmende Tränke“ es bereits zum Frühstück gab, aber in Ermangelung hygienischer Alternativen (und Heizungen) sicher realistisch.
Was nun die Verbindung zwischen Olivera und Laurenz sowie den Untaten in Laurenz‘ Heimatstadt angeht, da kam mehr, als ich erwartet hatte, viel mehr. Viel hat der Aberglaube der Zeit mit der Handlung zu tun und viel erfährt man auch über die Einstellung der Leute. Da ist das kosmopolitische Konstantinopel, wo Olivera gebildet heranwächst, wenn sie auch stark behütet wird und vor allem auf die Schicklichkeit geachtet wird. Und da ist das kleinstädtische Tübingen, das Fremde misstrauisch beäugt und schnell Aberglaube und Vorurteile zugrunde legt. Der Glaube, dass Armut und Krankheit als Strafe Gottes zu werten sind und damit ihre Bekämpfung als gotteslästerlich, wiegt vor. Geschickt fügt Autorin Silvia Stolzenburg Erklärungen zu vielen Begriffen und Zusammenhängen dadurch ein, dass Olivera sie Laurenz erklären muss oder umgekehrt.
Medizinisch-naturheilkundliche Themen interessieren mich und über den Beruf der Salbenmacherin hatte ich noch nichts gehört: Sie steht damit sowohl Hebammen zur Seite als auch dem Medicus, dem Apotheker oder als etwas, was man heutzutage wohl in einer Drogerie finden könnte, mit diversen Schönheitsmittelchen; faszinierend, wie deren Zubereitung aber auch die mittelalterliche Konstitutionslehre als Grundlage für Behandlungen mit einfließen (wer sich mit Shakespeare oder Molière beschäftigt hat, wird das lieben). Auch die Rolle der Frau fließt gebührend ein, herrlich die Ehevorbereitung durch die Oma: „Du weißt sicher, dass der weibliche Körper kälter, schwächer und poröser ist als der des Mannes“ Kapitel 12, wobei Oliveras Erziehung wohl eher recht modern ist, Konstantinopel und ihrer Herkunft entsprechend, im Gegensatz zu Tübingen.
Hervorragend: es gibt ein Glossar, das ich aufgrund der geschickten Textführung aber nicht brauchte, ausführliche Erläuterungen der Autorin zur Einordnung sowie ein Literaturverzeichnis, das ist richtig gut gemacht alles. Manko? Für den, den es stört: die Anteile Liebesroman sind schlicht genau das - wenn mich hier persönlich das auch in dem Gesamtkontext dann (fast zu meiner Überraschung) überhaupt nicht nervte. Und vielleicht fällt es mir nur auf, weil ich Christin bin: kann jemand mit Religion nichts anfangen, stört mich das nicht, hinterfragt jemand, finde ich das sogar gut und in dem vorhandenen historischen Kontext fände ich es sogar sehr angebracht, aber mir erwähnte Olivera etwas zu oft Sätze wie in Kapitel 2 „Doch war sie sich seit Langem sicher, dass Gott kein Ohr für die Anliegen der Frauen hatte.“ Es sind aber nur die wenigen Stellen; ich werde mir wohl den Folgeband trotzdem besorgen. Ach, und irgendwann war mir eine bestimmte Entwicklung für das Ende klar, einfach, weil es dem Kanon dessen entspricht, wie sich Hauptfiguren entwickeln „dürfen“, falls es sich denn nicht um einen Roman wie die „Buddenbrooks“ handelt, bei dem wir dem Niedergang aller beiwohnen dürfen (genauer geht es nicht, ohne zu spoilern). Ohne das überzubewerten, legen meine heißgeliebten Krimis wie auch andere Schmöker da wohl auch andere Erwartungshaltungen der Leser zugrunde als anspruchsvollere oder experimentellere Romane, aber deshalb wechsele ich ja auch gerne die Genres…
Gute 4 Sterne und eine echte Lesefreude unter Erweiterung des Wissens!