Cover-Bild Abgehört
16,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
  • Themenbereich: Gesellschaft und Sozialwissenschaften
  • Genre: Sachbücher / Geschichte
  • Seitenzahl: 672
  • Ersterscheinung: 12.09.2007
  • ISBN: 9783548607603
Sönke Neitzel

Abgehört

Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945

Was dachte die deutsche Generalität während des Zweiten Weltkriegs über Hitler, die Kriegslage und die Siegesaussichten? Was wusste sie über die Kriegsverbrechen? Sönke Neitzel hat die Abhörprotokolle deutscher Stabsoffiziere in britischer Kriegsgefangenschaft ausgewertet und gewährt erstmals unmittelbaren Einblick in das Wissen und Denken der Wehrmachtführung.

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.03.2019

Ein historisch bemerkenswert dokumentierter Einblick

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„Abgehört“ ist ein ungewöhnliches und schwieriges Buch. Zugrunde liegen ihm Protokolle, die die Briten von abgehörten Gesprächen kriegsgefangener deutscher Generäle (und einiger anderer hochrangiger Wehrmachtsangehöriger) ...

„Abgehört“ ist ein ungewöhnliches und schwieriges Buch. Zugrunde liegen ihm Protokolle, die die Briten von abgehörten Gesprächen kriegsgefangener deutscher Generäle (und einiger anderer hochrangiger Wehrmachtsangehöriger) machten. Diese Gespräche wurden geführt, ohne daß die Deutschen sich der Abhörung bewußt waren, so sind sie von einer Unbefangenheit, die man in offiziellen Memoiren, Interviews und anderen Texten nie finden würde. Dadurch, daß wir in den Protokollen die direkte wörtliche Rede lesen, gewinnen diese Gesprächsausschnitte auch noch einmal eine starke Unmittelbarkeit.

Der erste Teil der Buches erklärt die Situation, in der die Protokolle erstellt wurden und teilt die Gespräche in vier Themenschwerpunkte auf (Meinungen zur Kriegslage, Kriegsverbrechen, 20. Juli, Kollaboration/Mitwirkung beim Neuaufbau). Hier werden die Gesprächsprotokolle zusammengefaßt, ein wenig erklärt, es gibt Hintergrundinformationen. Die eigentlichen Gesprächsprotokolle, ebenfalls in Kapiteln zu jenen Themenschwerpunkten aufgeteilt, finden sich dann auf rund 350 Seiten in der Mitte des Buches. Anschließend folgen Kurzbiographien der Gesprächsführenden, die auch eine Einschätzung des jeweiligen Charakters sowohl durch Wehrmachtsvorgesetzte wie auch Briten oder Amerikaner beinhaltet. So werden uns die Personen über den reinen Lebenslauf hinaus nähergebracht. Leider fehlten hier meistens Informationen zum Werdegang nach dem Krieg. Ein umfangreicher (über 100 Seiten) Fußnotenteil erklärt viele Punkte der Gesprächsprotolle, gibt Hintergrundinformationen, rückt manche Information in den historischen Kontext oder auch ins richtige Licht, denn auch unter sich sind die Herren nicht immer ganz ehrlich oder neigen manchmal zur Schönfärberei.

Vor dieser ausführlichen Bearbeitung, insbesondere den in den Biographien und Fußnoten zusammengetragenen Hintergrundinformationen, kann man nur höchsten Respekt haben. Das ist eine bemerkenswerte Historikerleistung. Die Fußnoten sind sehr ausführlich und wurden von mir häufig zu Rate gezogen. Da oben auf jeder Seite vermerkt ist, auf welche Seitenabschnitte sich die jeweiligen Fußnoten beziehen, ist die richtige Seite auch immer rasch gefunden - es entfällt das zähe Suchen nach Kapitelnummer und Fußnotennummer. Solch eine Benutzerfreundlichkeit ist so einfach, und trotzdem in Sachbüchern selten.

Die Vorbemerkungen sind hilfreich, aber sie nehmen schon vieles aus den Gesprächsprotokollen vorweg. Die Protokolle selbst sind ausgesprochen interessant, man bekommt hier sonst nicht mögliche Einblicke. Einige der Protokolle wiederholen sich im Inhalt ziemlich, gerade wenn es um die Kriegslage geht. Hier hätte einiges ausgelassen werden können, ohne daß der inhaltliche Eindruck beeinträchtigt worden wäre. Wie die Kriegslage gesehen wurde, welche Überlegungen man zur Zukunft anstellte, ist natürlich gerade mit heutigem historischen Wissen faszinierend zu lesen. Auch die inneren Einblicke in Gespräche mit führenden Köpfen der Diktatur waren lesenswert, manchmal - sofern man das in diesem Kontext überhaupt sagen kann - aufgrund der flapsigen Ausdrucksweise in den Protokollen fast amüsant. Ein Bericht behandelt ein vertrauliches militärisches Gespräch mit Göring, der wie ein chinesischer Mandarin in farbenfrohe Seide gekleidet und reichlich mit Juwelen behängt ist, das verwöhnte Töchterchen Edda spielt im Zimmer und unterbricht die Besprechung, weil ihr Perlenkettchen kaputt gegangen ist - das ist alles so grotesk und lächerlich, dazu so locker erzählt, daß man trotz allem schmunzeln muß.

Ein entsetzlicher Gegensatz dazu das Kapitel über Kriegsverbrechen. Hier konnte ich nur in ganz kleinen Abschnitten lesen. Man kennt die dort berichteten Verbrechen gegen die Menschlichkeit und doch ist es immer wieder furchtbar, darüber zu lesen. Aufschlußreich aber die Haltungen der sich Unterhaltenden hier. Es gibt einige wenige, die sich generell gegen diese Verbrechen aussprechen. Andere subsumieren es unter militärischer Notwendigkeit, oder empören sich gegen die Art und Weise, nicht aber dagegen, daß unzählige unschuldige Menschen, vom Baby bis zum Greis, qualvoll ermordet wurden. Besonders interessant - und erschreckend - ist es, daß sogar jene, die gegen die Nazidiktatur einstellt sind, häufig einen starken Antisemitismus zeigen und Verbrechen gegen ihre jüdischen Mitmenschen durchaus gerechtfertigt finden.

Eindringlich sind auch viele der Protokolle über den 20. Juli. Einer der Gesprächsführenden ist nach diesem Attentat verhaftet worden und berichtet darüber. Es krampft einem beim Lesen das Herz. Diese persönlichen Komponenten spielen auch eine Rolle, wenn diskutiert wird, inwieweit man sich aus der Gefangenschaft am Widerstand beteiligt (zB durch Radio- oder Zeitungsaufrufe). Hier ist allen sich in England in Sicherheit befindlichen Männern klar, daß sie dadurch ihre Familien in Gefahr bringen würden. Auch die Aussichtslosigkeit des Krieges wird sehr klar formuliert: „Man kann ja nichts weiter machen als nur sterben, denn wenn man zurückgeht, wird man ja erschossen. (…) Denn wenn sie vorne nicht totgehen, werden sie hinten totgemacht.“ Tod an der Front oder Tod durch die eigene Regierung, das war für die Soldaten die Realität.

Die unterschiedlichen Meinungen sind interessant zu lesen. Es gibt jene, die bis zum Ende jedes Wort gegen die Diktatur als Verrat ansehen. Jene, die den Nationalsozialismus als Idee weiterhin gut finden, nur an der Umsetzung hätte es eben gehapert. Und jene, die, entweder von Anfang an, oder durch ihre Kriegs- oder Gefangenschaftserfahrungen, wissen, welch verbrecherisches Regime da agiert. „Wir haben uns ja versündigt, nicht Sie und nicht ich, aber wir auch als Repräsentanten dieses Systems, indem wir gehaust haben gegen alle sittlichen Gesetze auf der ganzen Welt.“