Psychoanalyse in nicht-westlichen Gesellschaften
Lassen sich die theoretischen Annahmen der Psychoanalyse einfach so auf nicht-
westliche Gesellschaften übertragen? Die Psychoanalyse kam schon sehr früh, ab ca.
1922, nach Indien und seitdem haben sich ...
Lassen sich die theoretischen Annahmen der Psychoanalyse einfach so auf nicht-
westliche Gesellschaften übertragen? Die Psychoanalyse kam schon sehr früh, ab ca.
1922, nach Indien und seitdem haben sich verschiedene indische Analytiker mit ihrer
Anwendung in ihrem Heimatland beschäftigt.
Der Autor, ein indischer Psychoanalytiker, nähert sich dieser Frage in verschiedenen
Aufsätzen, die im vorliegenden Buch abgedruckt sind. Er zeichnet einen geschichtlichen Umriss der Psychoanalyse in Indien und berichtet, wie ihm in seiner eigenen Selbsterfahrung bewusst wurde, wie groß der Einfluss seiner Kultur auf sein
psychisches Erleben ist – und wie fremd dieses einem westlichen Analytiker manchmal sein kann. Dazu analysiert er, welche Merkmale „Indisch-Sein“ – trotz aller vorhandenen Unterschiede in diesem riesigen, bevölkerungsreichen Land – in Abgrenzung zu westlichen Kulturen ausmachen können.
Die westliche Psychoanalyse baut beispielsweise sehr stark auf der Individualität und
Unabhängigkeit des Einzelnen auf, die in der westlichen Sozialisation stark betont wird, während Inder sich stärker über ihre Beziehungen zu anderen wahrnehmen und das auch in der Psychoanalyse anerkannt wissen wollen. Das zeigt sich auch darin, dass indische Säuglinge und Kleinkinder in deutlich engerem Körperkontakt zur Mutter aufwachsen als westliche und dadurch in ihrer Entwicklung stark geprägt werden.
Wird die Kultur des Analysanden in die Analyse nicht einbezogen, so besteht etwa die
Gefahr, dass dieser, um dem Analytiker gefallen zu wollen, versucht sich an dessen
kulturelle Vorstellungen und Werte anzupassen und seine eigene kulturelle Herkunft
aus der Therapie auszuklammern. Deshalb ist eine kultursensitive, offene Haltung des
Analytikers sehr wichtig, meint Kakar.
In den nächsten Aufsätzen analysiert der Autor Schlüsselbegriffe der Psychoanalyse,
etwa die Kastrationsangst, unter einer kultursensiblen Perspektive und macht durch
Fallbeispiele deutlich, wo und unter welchen Voraussetzungen diese Konzepte auf die
indische Gesellschaft passen könnten und wo sie psychische Phänomene nur
unzureichend erklären. Die Leser bekommen dabei interessante Einblicke in die
indische Kultur und Denkweise.
Ein Aufsatz behandelt auch das spannende Thema „Liebe in der islamischen Welt“ und
betrachtet die traditionellen islamischen Liebesgeschichten von „Leila und Madschnun“ sowie von „Sohni und Mahinwal“ unter kultursensibler Perspektive und zeigt dabei mögliche Prägungen islamischer Klienten auf. Schließlich endet das Buch mit einer Betrachtung der Auswirkungen von Migration auf die Identität und Psyche eines Menschen unter psychoanalytischem Blickwinkel.
Das Buch gibt einen wunderbaren Einblick in die vielfältigen Facetten der indischen
Kultur und ihre Bedeutung für psychologische oder psychotherapeutische Arbeit. Es
zeigt auf, wie sehr Kulturunterschiede die Arbeit mit ausländischen Klienten
beeinflussen können und ermutigt, sich mit den Herkunftsländern und -kulturen der
eigenen Klienten auseinanderzusetzen. Dabei fordert es auf, sich bewusst zu machen,
wie sehr das eigene berufliche Vorgehen kulturell geprägt ist und dass die universale
Gültigkeit des in einer Therapierichtung angenommenen theoretischen Hintergrundes
kritisch zu hinterfragen ist.
Das Buch ist leicht zu lesen, kurzweilig und dennoch sehr in die Tiefe gehend und
äußerst interessant. Damit kann es allen, die sich für die indische Kultur, für
Psychoanalyse oder auch ganz allgemein für eine exemplarische Analyse möglicher
kultureller Einflüsse auf den Therapieprozess interessieren, ausdrücklich empfohlen
werden.