Solide Unterhaltung
Für Polina"Polina" ist in aller Munde und sofort in die Bestsellerlisten eingestiegen. Das hat mich sehr neugierig auf dieses Buch gemacht, sodass ich es unbedingt lesen musste.
Was schätze ich an Literatur?
1. ...
"Polina" ist in aller Munde und sofort in die Bestsellerlisten eingestiegen. Das hat mich sehr neugierig auf dieses Buch gemacht, sodass ich es unbedingt lesen musste.
Was schätze ich an Literatur?
1. Gute Geschichten mit tiefgründigen Charakteren, die eine nachvollziehbare Entwicklung durchmachen:
Hier kann das Buch einiges vorweisen: es gibt nachvollziehbare, gut voneinander unterscheidbare und überwiegend sympathische Charaktere, mit denen man mitfühlen und mitfiebern kann. Einige davon liebenswürdig unkonventionell:
- etwa die frech-selbstbewusste Mutter von Hannes, Fritzi Prager, die als Teenagerin locker-flockig nach Italien reist, dort mit einem deutlich älteren Mann schläft, schwanger wird und das alles auf die leichte Schulter nimmt und für alles unkonventionelle Lösungen findet - sehr sympathisch und inspirierend!
- Günes, die ebenfalls alleinerziehende Mutter wird, weil sie sich von ihrem gewalttätigen Partner getrennt hat, und die zufällig neben Fritzi auf der Geburtenstation liegt, und die trotz türkischer Herkunft ihrer Tochter den Namen "Polina" gibt, inspiriert von einer Figur in einem Roman von Dostojewski. Fritzis Sohn Hannes und Günes' Tochter Polina sind also am gleichen Tag geboren, liegen schon als Babys aneinandergekuschelt im Bett, werden große Teile ihrer Kindheit miteinander verbringen und beste Freunde werden... bis hin zu der unglücklichen Liebesgeschichte später.
- Hannes selbst, nicht sonderlich attraktiv, nicht gut in der Schule, nicht sehr groß, wirkt als Kind eher langsam entwickelt, aber ist hochsensibel, feinfühlig und musikalisch hochbegabt
- die freche, schlaue, mutige Polina
- Heinrich Hildebrand, ein alter Mann mit einem großen Herzen, bei dem die junge Fritzi und ihr Baby Unterschlupf und eine emotionale Heimat finden
Das sind die Hauptcharaktere aus etwa dem ersten Drittel des Buches und die sind wirklich sympathisch, originell und gut gezeichnet. Danach kommen weitere Charaktere dazu, die deutlich klischeehafter sind, etwa Hannes' Vater, den er als Teenager kennen lernt, und der es mit seinem Unternehmen zu einigem Reichtum gebracht hat, für den nur das Beste gut genug ist und der wenig Sensibilität zeigt. Oder, viel später in Hannes' Leben, seine Partnerin Leonie, eine Ärztin, die sich mit ihm, der zu dieser Zeit als Möbelpacker arbeitet, einlässt, aber ansonsten ein Klischeebild des Lebensstils eines gewissen Milieus verkörpert.
Daran zeigt sich schon: während ich anfangs das Buch total begeistert gelesen habe, hat es mich mittendrin ein bisschen verloren. Zu klischeehaft wurden die neuen Figuren, zu sehr hat sich Hannes jahrelang in seinem Elend gewälzt, keine wirklichen Bewältigungsversuche unternommen und sein selbstschädigendes Verhalten regelrecht zelebriert, während er sich insgeheim nach Polina gesehnt hat. Dazu sehr viele Wendungen, viele davon nicht sonderlich glaubhaft.
2. Eine besonders schöne Sprache:
Damit punktet dieses Buch nicht. Es ist sehr verständlich und zugänglich geschrieben, es liest sich leicht, aber besondere Sprachbilder weist es nicht auf.
3. Authentisch recherchierte Hintergrundinformationen zu sozialen Milieus:
Auch das weist dieses Buch nicht auf, es ist klar Unterhaltungsliteratur, und ich habe nicht das Gefühl, über irgendein soziales Milieu glaubhaft irgendetwas Neues gelernt zu haben.
4. Originelle neue Ideen oder Konzepte:
Hier mochte ich die Idee, das Wesen eines Menschen in eine Melodie oder sogar Symphonie fassen zu können, so wie Hannes das mit Polina und später mit anderen Menschen gemacht hat. Und auch die durchaus tiefgründigen Reflexionen dazu, dass solche Symphonien viele Menschen tief bewegen, auch wenn jede/r je nach persönlichen Erlebnissen anderes mit den Melodien verbinden wird.
5. Emotional berührt zu werden:
Auch hier punktet das Buch, und die tiefe Liebe von Hannes zu Polina und die Verbindung, die die beiden Menschen seit frühester Kindheit trotz aller deutlichen Wesensunterschiede miteinander teilen, und dieses Festhalten daran über Jahrzehnte, das hat mich sehr berührt.
Somit ist es durchaus zu Recht ein sehr sympathisches und lesenswertes Buch und eine schöne Liebesgeschichte, aufgrund der angeführten Kritikpunkte aber für mich eindeutig im Bereich der Unterhaltung zu verorten, und keine anspruchsvolle Literatur.