Tolle Geschichte, aber Kinder bitte nicht ohne Begleitung lesen lassen!
Wie bereits in meiner Rezension zu den ersten drei Bänden der "Gregor"-Reihe erwähnt, verbindet mich mit dieser Serie aus der Feder von Suzanne Collins eine längere Reise voller guter Erinnerungen und ...
Wie bereits in meiner Rezension zu den ersten drei Bänden der "Gregor"-Reihe erwähnt, verbindet mich mit dieser Serie aus der Feder von Suzanne Collins eine längere Reise voller guter Erinnerungen und begeisterter Rereads. Zum ersten Mal gelesen habe ich sie 2011 im Alter von 10 Jahren und war so hin und weg von dieser originellen und hochspannenden Abenteuergeschichte, dass ich mir sofort alle Teile angeschafft habe. Im Laufe der Jahre wurde die Serie dann so etwas wie ein Comfort-Read für mich, auf den ich immer wieder in stressigen Situationen zurückgreifen konnte. Denn statt mich mit der Zeit zu langweilen, fielen mir mit jedem neuen Lesedurchgang neue Details auf, an denen ich mich erfreuen konnte und auch wenn ich der Zielgruppe mittlerweile deutlich entwachsen bin, reise ich jedes Mal mit großer Freude ins Unterland. Zu allen fünf Bänden der Reihe habe ich schon 2016 in den Anfängen meines Blogs eine Rezension geschrieben. Da diese jedoch recht kurz und oberflächlich ausfiel, habe ich nach einem weiteren Reread beschlossen, dass die Reihe es verdient, dass ich sie nochmal mit einer neuen Rezension ehre. Band 4, "Gregor und der Fluch des Unterlandes" macht in vielerlei Hinsicht einiges besser als die Vorgänger, ist jedoch trotzdem der Teil, den ich jedes Mal am wenigsten gern lese.
Bevor meine Rezension startet, will ich erstmal wie immer noch einige Worte zur Gestaltung loswerden. Die alten Cover meiner gebundenen Ausgaben sind von Band zu Band in unterschiedlichen Farben gehalten und zeigen jeweils Schlüsselszenen der Handlung in detailverliebter Illustration. Auf dem Cover von Band 1 ist unser junger Protagonist Gregor zu sehen, welcher auf dem Rücken seiner Fledermaus Ares über eine öde Wüstenlandschaft voll rauchender Vulkane fliegt. Der gelbe Titel hebt sich gelungen vom dunkelgrünen Grund ab und passt auch inhaltlich so gut zur Handlung, dass er mir fast besser gefällt als der Originaltitel. An der gesamten Gestaltung merkt man also auch hier wieder sofort, dass das Cover extra für die Geschichte kreiert wurde und nicht auf einem Stockbild beruht. Die Illustration stammt von Joachim Knappe, der auch die Vignetten an den Kapitelanfängen erstellt und die Gestaltung der Titelblätter der drei Teile übernommen hat. Eine so runde und der Zielgruppe entsprechende Gestaltung gibt es einfach nur bei Kinderbüchern!
Erster Satz: "Gregor saß auf dem Bett und fuhr mit den Fingerspitzen über die Narben."
Band 4 startet etwa ein halbes Jahr nachdem Gregor am Ende von Band 3 seine freundliche Nachbarin Mrs Cormaci über alles eingeweiht hat, nachdem er und seine Freunde entdeckt haben, dass die Pest direkt aus den Laboren der Menschen kam, die die Bazillen als biologische Waffen im Kampf gegen die Ratten einsetzen wollten. Auch wenn die Heerführerin Solovet und die leitende Wissenschaftlerin daraufhin verurteilt wurden und den Nagern als Wiedergutmachung Land und das Heilmittel geschickt wurde, spitzt sich die Lage im Unterland weiter zu. Diesmal ist Gregor über die Vorkommnisse auch vollkommen im Bilde, da er beinahe seine gesamten Sommerferien mit regelmäßigen Besuchen im Unterland verbracht hat. Seine Mutter liegt noch auf der Krankenstation und genest von der Pest, Gregor und seine Fledermaus Ares trainieren zusammen und Boots hat mit Hazard einen neuen Spielkameraden gefunden. Da also alles erstmal ruhig erscheint und sich der Rat von Regalia noch vom schlimmen Verrat Solovets erholt, möchte keiner die Zeichen deuten, die vermehrt auftauchen. Eine verschlüsselte Nachricht an Luca, ein toter Huscher, leere Kolonien und ein Korb Mäusebabys auf dem Fluss sind nur der Anfang. Da ihnen niemand glaubt, dass etwas Schlimmes im Verborgenen im Gang ist, beschließen Luxa und Gregor kurzerhand selbst loszuziehen und den Verbleib der Huscher zu überprüfen. Unwissentlich manövrieren sie sich in ein neues Abenteuer und geraten in die Fänge des nun herangewachsenen, weißen Fluchs...
Mit diesem vierten Band der Reihe weicht Suzanne Collins erstmal deutlich vom typischen Ablauf ab. In den anderen Bänden wurde Gregor jedes Mal unter irgendeinem Vorwand zurück ins Unterland gelockt, mit einer neuen Prophezeiung konfrontiert und zog dann mit einer buntgemischten Gruppe los, um diese zu erfüllen. In "Gregor und der Fluch des Unterlandes" wird die Handlung zwar auch durch eine Reise mit klarem Ziel strukturiert, die Vorlaufzeit, bevor diese Reise startet, ist jedoch viel länger und es gibt zum ersten Mal keine auf den ersten Blick ersichtliche Prophezeiung. Auf diese Weise bleibt viel unklarer, in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird. Zudem kann die Autorin das erste Drittel der Geschichte für Erklärungen nutzen und zusätzlich Grundsteine für den großen Endkampf in Band 5 legen. Wurden zuvor noch regelmäßig Bestrebungen zum Erhalten des Friedens unternommen und die Fronten hinterfragt, scheinen die sich gegenüberstehenden Seiten nun klarer und von gemeinsamer Zusammenarbeit ist nur noch wenig zu spüren. Die Spannung spitzt sich zu, die Atmosphäre verdichtet sich und die vorherigen Ambivalenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen - nun stehen Kriegserklärungen statt Diplomatik auf dem Plan.
"Beim Feuertanz nimm dich in Acht,
Sieh die Königin der Nacht.
Gold verströmt sie, heiße Pracht.
Vater, Mutter, Schwester Bruder
Fort. Und wer weiß, ob wir uns sehen
an einem anderen Ort.
Fang die Huscher in dem Loch,
sieh sie blitzschnell wirbeln noch.
Dann ganz still, sie schlafen doch.
Vater, Mutter, Schwester Bruder
Fort. Und wer weiß, ob wir uns sehen
an einem anderen Ort.
Jetzt kommen alle Gäste rein.
Wir grüßen sie, so soll es sein.
Wir schneiden ab, wir gießen ein.
Vater, Mutter, Schwester Bruder
Fort. Und wer weiß, ob wir uns sehen
an einem anderen Ort."
Passend dazu werden auch die behandelten Themen nochmals deutlich düsterer. Schon in den ersten drei Bänden geht es für eine 10jährige Zielgruppe recht blutrünstig zu, da viel gekämpft und auch getötet wird. Mit Themen wie Genozid, Faschismus, Todesstrafe, Krieg, Rache oder Kannibalismus dringt Suzanne Collins nun aber in ein Gebiet vor, das mit einem Kinderbuch wirklich nicht mehr viel gemein hat. Gräueltaten mit auf der Hand liegende geschichtlichen Referenzen werden hier so erschreckend real und detailliert umgesetzt, sodass beim Lesen die dringende Begleitung durch Erwachsene nötig ist. Zusätzlich sorgen auch Bedrohungen wie Riesenskorpione, Monsterwellen, Erdbeben, Vulkane oder getarnte Schlangenarmeen für spannende, dramatische und blutige Szenen. Ab dem vierten Band kann ich die Reihe also nur noch bedingt für die 10-12jährige Zielgruppe empfehlen und möchte nochmal betonen, dass die vielen Wendungen, guten Ideen, überraschend komplexen Zusammenhänge sowie die realgeschichtlichen Anspielungen die "Gregor" Reihe auch für ältere LeserInnen attraktiv macht.
Nachdem wir in den letzten Bänden schon im Land des Todes, auf dem Wasserweg, im Labyrinth der Ratten und im Dschungel unterwegs waren, unternehmen wir nun eine Reise zum Quell, der anderen Menschenkolonie im Unterland und entdecken die Feuerländer. Zusätzlich zu den neuen Informationen, die das Bild des Unterlands komplettierten, hat sich beim Lesen auch mein grundlegendes Verständnis des Schauplatzes nochmals verändert. Stellte ich mir zuvor alles als eine mit Tunnel verbundene, unterirdische Ebene vor, wurde mir beim Lesen immer mehr klar, dass es sich eigentlich mehr um eine dreidimensionale Kugel handelt und sich die einzelnen Orte auch auf unterschiedlichen Höhenebenen befinden. Und das ist in meinen Augen auch eine große Stärke der Reihe: Viele der Regeln der Welt, Details des Lebens unter Tage, die Entstehung der Menschenstadt Regalia oder die Vorstellung der verschiedenen Territorien werden erst nach und nach im Verlauf der Bände erklärt. Auf diese Weise wird man beim Lesen nicht mit Informationen erschlagen, kann sich aber von Kapitel zu Kapitel ein besseres Bild des Schauplatzes machen und das Unterland in der eigenen Fantasie aktiv mitgestalten.
Zum Leben erweckt wird das Setting wieder durch die bildhafte, aber einfach gehaltene Sprache der Autorin. Mit lebensnahen Vergleichen, vielen Dialogen, mitreißenden Minicliffhangern am Ende eines jeden Kapitels und den wunderbar übersetzten Prophezeiungen und Lieder konnte mich Suzanne Collins auch hier wieder erreichen und mir die Geschehnisse vor Augen führen. Bei der ein oder anderen Szene hätte ich aber lieber nicht so genau hingesehen und habe meine bildhafte Fantasie verflucht... Dass die Autorin auch hier ernste Themen anspricht und Botschaften sendet, liegt denke ich auf der Hand. Leider funktionierte aber ihre zuvor bewährte Taktik, um die gedrückte Stimmung aufzulockern nicht mehr, sodass die Atmosphäre hier für ein Kinderbuch ein deutlich zu starken Überhang zum Düsteren erhält. Ein Beispiel dafür ist zum Beispiel die Anwesenheit von Boots und anderen Kindern. Während die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit von Boots und Hazard in Band 3 für eine gelungene Auflockerung sorgte, konnte ich in Band 4 nun wirklich nicht mehr nachvollziehen, warum die beiden auf die gefährliche Reise mitkommen mussten. Die beiden tragen nicht wirklich etwas Produktives bei und bilden mit ihrem fröhlichen Geplapper und den ständigen Liedern eher ein störender Kontrast zu den sehr ernsten Themen. Viel mehr als die dissonanten Kinderstimmen habe ich hier die Anwesenheit der zynischen Ratte Ripred geschätzt, die die Dinge mit schneidendem Sarkasmus aber auch immer der richtigen Portion Feingefühl anpackt.
Sehr gelungen fand ich wiederum die Entwicklungen zwischen Luxa und Gregor, die ihren natürlichen Umgang miteinander verlernt haben und sich wundern, woher die Spannung zwischen ihnen kommt. Für ältere LeserInnen (genau wie für den amüsierten Ripred) ist natürlich sofort offensichtlich, was sich zwischen den beiden verändert hat, aber Luxa und Gregor dabei zuzusehen, wie sie das selbst herausfinden ist einfach köstlich. Eher schmerzhaft ist dagegen die Beobachtung, wie sehr sich Gregor durch die Abenteuer der letzten Bände verändert hat. Er hat nicht nur körperliche Narben davongetragen, die er durch lange Kleidung im Überland verstecken muss, sondern kämpft auch mit seelischen und psychischen Nachwirkungen dessen, was er miterleben musste. Und das ist ein weiterer Punkt, den die Reihe wunderbar meistert (und der auch in allen anderen Romanen der Autorin immer berücksichtigt wird, ich sage da nur "Ende der Panem-Reihe"...): Schreckliches bleibt nie ohne Folgen. Die Geschichte nimmt sich genügend Zeit, um auszuloten, was die Geschehnisse mit den Figuren machen und ist sich dabei nicht zu schade, den Finger in die Wunde zu legen. Das bedeutet natürlich ein großer Zugewinn an Glaubwürdigkeit und Figurentiefe, leider aber auch jede Menge Schmerz beim Lesen, da man nur schwer verwinden kann, wenn ein mittlerweile 12jähriger in Gedanken Trost bei einem steinernen Ritter im Museum sucht, da dieser alles Schlimme überstanden hat und nun in Frieden ruhen kann. AUTSCH!
Zum Ende der Geschichte muss man noch sagen, dass die Handlung hier zum ersten Mal nicht in sich abgeschlossen ist, sondern dass vieles sehr offenbleibt. War zuvor noch ein zeitlicher Abstand zwischen den Geschehnissen der Bände eingeschoben, geht Band 4 direkt in die Handlung von Band 5 über. Ich kann also nur empfehlen, den zeitlichen Abstand so gering wie möglich zu halten!
Fazit:
"Gregor und der Fluch des Unterlandes" weicht zum ersten Mal von der inhaltlichen Grundstruktur der Reihe ab und zeigt sowohl im Handlungsverlauf als auch was die Themen angeht eine größere Variabilität und Offenheit. Da es hier um sehr ernste Themen geht und die jungen Protagonisten mehr leiden müssen als je zuvor, kann ich die Geschichte aber nicht mehr uneingeschränkt für die 10-12jährige Zielgruppe empfehlen!