Aufschrei gegen sexualisierte Gewalt
essa Ensler hat es geschafft! Das ehemalige Mädchen aus den sozialen Wohnblocks von Luton hat durch Grips, Ehrgeiz und Zielstrebigkeit nicht nur ein Stipendium für ein Jurastudium in Cambridge ergattert, ...
essa Ensler hat es geschafft! Das ehemalige Mädchen aus den sozialen Wohnblocks von Luton hat durch Grips, Ehrgeiz und Zielstrebigkeit nicht nur ein Stipendium für ein Jurastudium in Cambridge ergattert, sondern auch das Studium erfolgreich abgeschlossen, ebenso das Bar-Exam, das ihr die Zulassung als Barrister, also als Prozessanwältin in London gewährt. Nun ist sie Teil des Temple, des altehrwürdigen Justizbezirks in London, mit kleinen, geschichtsträchtigen Büros, inmitten von Kollegen und Kolleginnen, die meistens schon aus eingefleischten Juristendynastien stammen. Sie fügt sich nicht nur ein, sie ist so clever, dass sie sogar erfolgreich ist, in einem Gebiet, in dem Frauen eher die Ausnahme sind. Sie will, dass ihre Mandanten vor Gericht eine Chance haben, anders als ihr geliebter Bruder Johnny damals und oft sind es Pflichtverteidigungen in Sexualdelikten. Sie ist richtig gut, bis eine grausame Nacht ihr Leben ändert und sie beschließt sich nicht die Kontrolle entziehen zu lassen, sondern Anzeige zu erstatten.
Dies ist ein ebenso schnörkelloses wie erbarmungsloses Drama über Vergewaltigung, Spannend, schonungslos und auch ein flammendes Plädoyer, den Schutz der meist weiblichen Opfer durch die Rechtspflege zu reformieren. Zwar erlebt fast jede 3. Frau sexualisierte Gewalt, doch die Verurteilungsquoten sind extrem niedrig, was daran liegt, dass es sich zumeist um Aussage gegen Aussagesituationen handelt. Hier ist es ganz entscheidend, wem das erkennende Gericht glaubt, wer seine Version der Vorgänge nachvollziehbarer und glaubhafter schildert. In GB gilt es eine Jury zu überzeugen, in Deutschland meistens einen Berufsrichter und 2 Schöffen (Schöffengericht am Amtsgericht) oder eine Strafkammer (Landgericht), das hängt von der Schwere der Tat und vor allem von der Schwere der Vorstrafen des Angeklagten ab. Vorbestrafte Angeklagte werden eher verurteilt. Anders als in Vereinigten Königreich, werden in solchen Fällen in Deutschland oft Glaubwürdigkeitsgutachten durch Sachverständigen erstellt, Lügendetektortests sind bei uns, aus gutem Grund nicht zugelassen. Ob ein solches Gutachten in Auftrag gegeben wird, sollte im Vorfeld die Staatsanwaltschaft entscheiden, bisweilen auch die Ermittlungsrichterin, im Prozess, ist es eigentlich schon zu spät. Hier wird das britische System und dessen Begrifflichkeiten beschrieben, daher lässt es sich nicht genau 1 zu 1 übertragen und das nicht nur, weil wir keinen König haben. In derartigen Fällen können bei uns die Opfer beantragen, als Nebenkläger zugelassen zu werden, mit eigenem Anwalt, den Nebenklagevertretern, die auch in ihrer Abwesenheit im Saal, eigene Frage und Antragsrechte haben. Das Hörbuch beginnt mit einem Einstieg in Tessas Arbeitsalltag, mit ihren Prozessen und ihren Mandanten, aber auch mit Rückblicken in ihre Kindheit, Schulzeit und ihren Studienzeit als Stipendiatin in Cambridge. Das ist nötig, damit man das System auch versteht, dem sie sich nachher selbst stellen muss und deren Grausamkeit sie begreift, als es sich gegen sie selbst richtet.
Mir gefällt sehr gut, dass man Tessas Backround, also die soziale Schicht, ihre Herkunft aus den Sozialen Wohnblocks und dem staatlichen Schulsystem mit einem gewalttätigen, abgehauenen Vater, einem vorbestraften Bruder und einer alleinerziehenden, überforderten Mutter kennen lernt. Sie schafft es sich in er ihr von Geburt auf völlig fremden Welt nicht nur zu bestehen, sondern auch zu brillieren. Sie erregt Aufmerksamkeit und wird langsam von ihren Gegnern gefürchtet und von ihren Kollegen bewundert. Bis zu dem Tag, an dem ein Upperclass-Sproß, dem sie vertraute, den Boden unter den Füßen wegzieht.
Pegah Ferydoni ist eine erfahrene und bekannte Schauspielerin, deren Stimme aber leider selten in Hörbüchern zu hören ist. Hier zeigt sie was sie kann! Meistens schildert sie ganz sachlich ihre Prozesse, doch spürt man ihr den Triumph an, wenn es so richtig gut läuft, aber auch ihre Unsicherheit, gerade im Kontakt mit denen, die bereits mit goldenen Löffeln in ihrem Mund geboren wurden. Ihre warme Stimme lässt deutlich die widerstreitenden Gefühle und ihren Kampf um innere Kontrolle im Laufe des Prozesses ihres Lebens spüren.
Ich finde dieses Hörbuch hervorragend, absolut eindringlich, spannend und auch erschütternd. Ich kann es wirklich nur empfehlen, allerdings nicht Opfern sexualisierter Gewalt, sondern deren Umfeld. Es fällt Freunden und Verwandten oft sehr schwer zu verstehen, warum die Betroffenen nach einer Vergewaltigung so reagieren, wie sie reagieren, Ihr Verständnis und ihre Geduld wird auf eine harte Probe gestellt, die leider oft genug nicht erfolgreich ist.
Ja, Tessa hat recht, als sie in einer flammenden Rede moniert, dass diese Verfahrensregeln, die diese meist weiblichen Opfer benachteiligt, von privilegierten, heterosexuellen weißen Männern aufgestellt wurden und dringend reformiert werden müssen. Ich weiß wovon ich rede, da ich oft genug Nebenklagevertreterin bin.