Lesenswert und abgründig
Mit „Die schönen Jahre“ von Teresa Ciabatti habe ich die Stimme einer bekannten und preisgekrönten Autorin in der Hand.
Und zwar einen äußerst wahrhaftigen, schonungslosen Roman mit einer äußerst zweifelhaften ...
Mit „Die schönen Jahre“ von Teresa Ciabatti habe ich die Stimme einer bekannten und preisgekrönten Autorin in der Hand.
Und zwar einen äußerst wahrhaftigen, schonungslosen Roman mit einer äußerst zweifelhaften Erzählerin.
Ciabattis Erzählerin ist eine berühmte Schriftstellerin (zu oft wiederholt und betont um glaubhaft zu sein) Ende Vierzig, in den Wechseljahren und mit Vergangenheit.
Als Teenagerin ist sie mit Frederica befreundet. Die Freundschaft ist mit ambivalenten Gefühlen besetzt und eine Notgemeinschaft.
„Auf dem Teppich in deinem Zimmer will ich du sein, gib mir die Hand.“
Die beiden Jugendlichen, eine reich und eine arm, eint der Wunsch, attraktiv genug zu sein, um dazu zugehören.
So attraktiv wie Fredericas Schwester Livia, der feuchte Traum dreier Männergenerationen. Auch das mehrfach wiederholt.
30 Jahre später treffen sich die Wege der beiden einstigen Freundinnen wieder. Die Leben der beiden Frauen haben sich sehr verändert. Die arme Erzählerin ist eine berühmte, geschiedene Schriftstellerin geworden und hat eine erwachsen Tochter. Frederica kümmert sich um ihre mittlerweile geistig behinderte Schwester Livia.
Wie wurde aus dem einstigen Männertraum eine verwirrte Person, die ständiger Aufsicht und Pflege bedarf?
Eher langsam und unzuverlässig lässt Ciabatti ihre Erzählerin aufdecken, was damals geschah und wie die Freundschaft der beiden wirklich endete.
Ciabatti greift in ihrem Roman verschiedene Themen auf, doch nicht alle offenbaren sich sofort gleichermaßen. Da ist der Konflikt der Erzählerin mit ihrer erwachsenen Tochter, die sie nicht mehr sehen will. Zuviele Fehler machte sie einst als Mutter mit narzisstischer Neigung.
Vordergründig scheint die Erzählerin eine egomanische und im sich selbst kreisende Figur, doch Ciabatti lässt sie offen und schrittweise offenbarend erzählen, sodass ich dahinter eine große Verletztheit erahne. Und eine zutiefst menschliche Suche nach Liebe und nach einem gesehen werden, die allem zu Grunde liegt.
„Der Wunsch, vergewaltigt zu werden, entführt zu werden, die verzweifelte Sehnsucht, bei irgendetwas die Hauptperson zu sein.“
Schriftstellerisch und stilistisch finde ich hier großes Kino. Ich mag Ciabattis wiederborstigen und schwer eingängigen Schreibstil. Sie lässt ihre Erzählerin mich als Leser*in direkt ansprechen und erwischt mich kalt in meinen Gedanken.
Kleinere Abstriche muss ich beim Unterhaltungsfaktor machen. Ja, manche Stellen sind schwierig und erschließen sich nur durch freie Assoziation. Das ist anstrengend und einige Deutungsoptionen bleiben mir sicher verschloßen.
Ein lesenswerter, abgründiger Roman, in dem der Wahrheitsgehalt über die Vergangenheit und der Gegenwart faszinierend verschwimmt und nur noch meiner eigenen Deutung überlassen bleibt.