Etwas von Lady Chatterley
Der Roman von Tessa Hadley ist mal wieder ein schöner Roman, bei dem es nicht um Verbrechen, wohl aber um feinsinnige Spurensuche geht.
Eine der Hauptfiguren ist auf jeden Fall Phyllis Fischer. Sie und ...
Der Roman von Tessa Hadley ist mal wieder ein schöner Roman, bei dem es nicht um Verbrechen, wohl aber um feinsinnige Spurensuche geht.
Eine der Hauptfiguren ist auf jeden Fall Phyllis Fischer. Sie und Ihre Familie wird zunächst umfangreich vorgestellt. Sie ist mit Roger verheiratet. Gemeinsam haben sie die beiden Kinder Colette (13) und Hugh (9). Phyllis hatte viele Jahre in Kairo gelebt und dann in England ein trautes Heim aufgebaut.
Eines Abends sollte Nicholas Knight zu Besuch kommen. Er ist der Sohn einer netten, guten Freundin und frisch in London eingetroffen. Seine Mutter hatte ihn ermuntert doch mal die Fischers zu besuchen. Die Fischers würde sich sicherlich um ihn kümmern. Sie hat dabei sicherlich auch an die Tochter Colette gedacht, welche später vielleicht eine gute Partie für ihren Sohn abgeben würde. Pflichtbewusst stellt er sich dem. Obwohl ihn all das Spießertum der Fischers noch am ersten Abend auf den Senkel geht. Colette findet er abstoßend. Das Essen mag er auch nicht. Aber in einem schnellen, flüchtigen Gedanken scheint ihm die reife Frau irgendwie attraktiver.
Doch dann passiert es offenbar. Nicky, wie er genannt wird, muss tags darauf ständig an Phyllis denken. Ihm leuchtet gar nicht ein, warum das so ist. Und Phyllis bekommt ihn nicht aus dem Kopf, doch dabei könnte er ihr Sohn sein. Es passiert, was passieren musste: Beide beginnen eine Affäre miteinander. Und schließlich zieht Phyllis aus ihrem Heim aus, ohne der Familie eine Information zu hinterlassen, wohin sie verschwunden ist.
Dieser Roman von Tessa Hadley hat mich auf erfreuliche Weise an Lady Chatterley von D. H. Lawrence erinnert. Obwohl es bei der Lady von damals um einen eher gleichaltrigen Liebhaber ging und nicht, wie hier, um die Liebe einer erwachsenen Frau zu einem jungen Mann, der auch ihr Sohn sein könnte. Dennoch haben beide Romane eine gewisse Ähnlichkeit in Bezug auf die Liebschaft und Affäre, denn sie sind Ehebruch- und Liebesroman zugleich, aber auch bei der Wahl der wohlklingenden Worte und Beschreibungen. Er lässt sich trotz der manchmal überlangen Absätze sehr angenehm lesen.
Jede der Figuren wird mit ansprechenden Bildern und Szenen so vorgestellt, dass man sie unbedingt zu kennen meint. Das betrifft auch z. B. die pubertierende Colette, deren Erwachsenwerden im Rahmen ihrer Familie und im Rahmen ihrer Freundinnen auf faszinierende Weise geschildert wird.
Colette nimmt für mich auch eine besondere Rolle ein, die zu der Spurensuche führt, die bereits oben angesprochen wurde. Da sie genauso wenig wie der Vater und der Bruder weiß, warum ihre Mutter so plötzlich verschwunden ist, ist sie diejenige, die am meisten Ehrgeiz zeigt, den Grund herauszufinden. Die beiden Männer der Familie scheinen das Verschwinden einfach so hinzunehmen. Mit Colette wird der Roman angenehm spannend und bekommt etwas Nervenkitzel.
Aber auch ihre Mitter Phyllis hält immer wieder Überraschungen bereit. Als Leser sollte man sich nicht in einer anfänglichen Wohlfühlzone einrichten. Es wird so manches Geheimnis an die Oberfläche gespült, mit dem man zu Beginn nicht gerechnet hat.
Wer Lust hat, sich in einen wunderschönen Roman zu vertiefen, der sollte auf »Freie Liebe« nicht verzichten.
© Detlef Knut, Düsseldorf 2022