Wunderbar virtuose und spannende Literatur aus Frankreich!
Ich habe Lust auf Literatur und möchte auch gerne beim Lesen unterhalten werden und bin deshalb immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Bücher, die diese beiden Interessen miteinander verbinden.
Mit ...
Ich habe Lust auf Literatur und möchte auch gerne beim Lesen unterhalten werden und bin deshalb immer auf der Suche nach außergewöhnlichen Bücher, die diese beiden Interessen miteinander verbinden.
Mit den Büchern des unabhängigen Schweizer Lenos Verlag fühle ich mich dabei meistens wunderbar aufgehoben.
So auch mit dem gerade dort erschienenen „Der Freund“, dem neuesten Roman der renommierten und erfahrenen französischen Schrifststellerin Tiffany Tavernier. Es ist ihr erster ins Deutsche übersetzte Roman, soweit ich das recherchieren konnte.
Seine Ausgangslage ist so ungewöhnlich wie spannend: Als die Polizei das Nachbarhaus stürmt, muss das ältere Ehepaar Lisa und Thierry schmerzhaft erfahren, dass ihr Nachbar und Freund eine lang gesuchter Mörder von Kindern und Jugendlichen ist. Guy, den sie als netten und liebenswerteren Mann kennen und schätzen gelernt hatten, ist eigentlich ein Vergewaltiger und Kinderquäler. Ein sadistisches Monster?
Thierry ist natürlich geschockt und unterstütz die Ermittlungen. Nach und nach kommen immer mehr grausame Details ans Licht und wie weit das doppelte Spiel des vermeintlichen Freunds getäuscht hatte.
Tavernier schreibt aus der Ich-Perspektive von Thierry, einem Mann, der schon länger innerlich erstarrt ist und seine Gefühle abgespalten hat. Er lebt, als wäre er gar nicht wirklich da.
Jetzt kann ich die faszinierende Eruption seiner emotionalen Schutzmauern beobachten. Irgendwann lassen sich die Trauer um seinen falsch eingeschätzten Freund, die Schuldgefühle angesichts seiner Ahnungslosigkeit und die schon länger schwellenden Konflikte in seiner Ehe nicht mehr unterdrücken.
Und da lauert noch mehr in den Tiefen seiner Psyche und seiner Vergangenheit…
Tavernier schreibt kompakt und ausdrucksstark. Manche Szenen vermitteln ein Gefühl von atemloser Rasanz. Ich spüre die Dringlichkeit von Thierrys Gedankenkarussel und erlebe live sein inneres Aufbrechen. Diese Art von Taverniers Ausarbeitung hat mir sehr gut gefallen.
Vielleicht drückt Tavernier gegen Ende fast zu heftig aufs Gaspedal und ist haarscharf dabei mit dem Plot aus der Kurve zu fliegen, um dann allerdings in einer überraschenden und ungewöhnlichen Katharsis zu münden.
Wunderbar virtuose und spannende Literatur aus Frankreich!