Die etwas alternativ-esotherische Marlene begibt sich mit ihrem noch ungewöhnlicherem Sohn Gregor (14) mit der Bahn zu ihrer älteren Schwester Judith und deren Mann Achim, zum alljährlichen Besuch. Achim graust es schon vor dem Besuch, Marlene scheint sich gar nicht an Gregors Eigenheiten zu stören, lässt ihm alles durch gehen und erzieht ihn gar nicht! Ihrem eigenen Sohn Frank hätten sie so etwas nie durch gehen lassen! Schon bei der Ankunft auf dem Bahnsteig fallen Marlene und Gregor auf, aber Marlene scheint das nicht zu stören, ebenso wenig, wie Gregor schrille, merkwürdige Kleidung, seine offensichtliche Unfähigkeit sich in die Normalität einzufinden. Noch auf dem Bahnsteig quatscht er eine Brötchenverkäuferin an und macht ihr ein Kompliment – diese freut sich und lächelt wahrscheinlich zum ersten Mal an diesem Tag. Gregor begegnet seinen Mitmenschen unvoreingenommen, offen und mit entwaffnender Ehrlichkeit. Auch auf die Menschen in dem Mehr-Parteienhaus von Tante Judith geht er unbekümmert auf alle Bewohner zu, obwohl die meisten sich sogar aus dem Weg zu gehen scheinen. Aber Gregor beobachtet, denkt nach und kombiniert. Als sich Gregors Aufenthalt durch einen Unfall von Marlene verlängert, gehen in dem Haus in der Brunnerstraße nach und nach die wunderbar unvorhersehbarsten Dinge vor sich.
Gregor stolpert einem auf diesem Bahnsteig zu Beginn quasi entgegen. Was mit ihm los ist, erfährt man erst ganz am Ende, aber das ist ja eigentlich auch gar nicht so wichtig, wie es heißt, was bei ihm anders ist. Er ist anders und daher reagiert er auch anders auf seine Mitmenschen. Auch wenn ihn alle nicht auf Anhieb ernst nehmen, fühlen sie sich doch nie von ihm bedroht, sondern wundern sich allenfalls. Seiner offenen, staunenden Art kann man sich nicht entziehen, und so lassen die Nachbarn Dinge geschehen, die sie selbst nie für möglich gehalten hätten. Irgendwie knackt er sie auf, mit seiner entwaffnend ehrlichen Art, hält er ihnen unschuldig einen Spiegel vor und sie erkennen allzu oft, wie sehr sie sich in etwas verrannt haben oder das sie in eine Sackgasse gelangt sind. Auch wenn Gregor anders ist, ist er kein Außenseiter, denn er ist einfach da und ein Bindeglied, zwischen Menschen, die es nie für möglich gehalten hätten, das sie etwas gemeinsam haben könnten.
Sehr humorvoll und wundervoll sensibel erzählt Ulrike Herwig (alias Ulrike Rylance, Caro Martini oder Carly Wilson) die Geschichte eines Kindes, das anders ist. Dabei bezeichnet sie ihn selbst nie als behindert oder mit so unsinnigen Umschreibungen wie „Menschen innerhalb eines anderen Spektrums der Normalität“, sie läßt einfach Gregor für sich selbst sprechen und das ist gut so. Trotz aller größerer und kleinerer Probleme der Hausbewohner ist der Ton der Geschichte immer ein positiver, er zieht einen nicht herunter, sondern zeigt auf, daß eigentlich alles möglich ist. Nicht in einer aufgesetzten „Denk-positiv“-Manier, sondern einfach durch die Offenheit des Geistes und des Herzens. Einfach wunderschön bewegend, geht diese Geschichte ins Herz. Man versteht, warum Marlene ihr Kind so liebt, auch wenn Gregor wohl kaum so ist, wie sie es sich noch in der Schwangerschaft erträumt hat. Aber müssen Kinder wirklich immer „Erfolgsgeschichten“ sein? Kann man sie nicht einfach nur lieben, wie sie sind? Ein ehrliches Plädoyer für Akzeptanz und Respekt, vor den Menschen, wie auch immer sie auch sein mögen. Gregor nimmt seine Mitmenschen so an, wie er sie kennenlernt, er schaut auch hinter ihre bisweilen hübschen Fassaden und urteilt mit dem Herzen und nicht mit den Augen. Während er so einige als Blender entlarvt, entpuppt sich manch Grantler als herzensgut, aber einsam.
Eine Geschichte, die mir während des Lesens nicht nur das Herz wärmte, sondern meine Tage einfach ein wenig schöner machte. Ein echtes Lesehighlight, ein kleiner Schatz.