Originell, kurzweilig, temporeich erzählt und vor allem: erfrischend anders!
Vom Kurzgeschichten-Experte Uwe Hermann bin ich bislang schon in den Genuss der Kurzgeschichtensammlung "Der Raum zwischen den Worten" gekommen, welche mich uneingeschränkt überzeugen konnte. Als er mit ...
Vom Kurzgeschichten-Experte Uwe Hermann bin ich bislang schon in den Genuss der Kurzgeschichtensammlung "Der Raum zwischen den Worten" gekommen, welche mich uneingeschränkt überzeugen konnte. Als er mit einem brandneuen Science-Fiction-Thriller bei mir anklopfte, musste ich natürlich zusagen. Und wieder war das eine gute Entscheidung: "Userland - Berlin 2069" entpuppte sich als rasanter Thriller voller verrückten Ideen, kurzweiliger Action, wendungsreichen Handlungssträngen und leiser Ironie.
Das Cover ist ganz in düsteren Violett- und Blautönen gehalten und zeigt eine futuristische Version Berlins aus der Vogelperspektive. Dichte Wolken hängen unheilschwanger über den Spitzen der Wolkenkratzer und aus einer Explosion erhebt sich ein Kopter im Vordergrund. Grundsätzlich ist die Gestaltung was Motive und Stimmung angeht sehr passend gewählt. Leider sieht es für mich viel zu sehr nach Trash-Sci-Fi aus, sodass ich mir nicht sicher bin, ob ich in einer Buchhandlung danach gegriffen hätte. Auch beim Titel bin ich nicht zu Hundert Prozent zufrieden. Vor "Userland", welches zwar futuristisch klingt, sich mir aber die direkte Bedeutung für die Handlung nicht erschließt, wären mir mindestens 5 passendere Titel eingefallen. Ich hätte die Geschichte wohl eher nach einem der wichtigen Schlagworte wie "Sphäre" oder "Goliath" genannt. Ansonsten sammelt die Gestaltung durch die Liste der vorkommenden Personen im Anhang deutlich Pluspunkte und auch die kurzen Kapitel mit der einheitlichen Formatierung haben mir gut gefallen.
Erster Satz: "Noah Lloyd klammerte sich an seine Bierflasche und sah den zwei gewaltigen Brüsten zu, die im Schein greller Neonlichter unentwegt vor seinem fenster auf und ab wippten."
Aha, dachte ich nach diesem ersten Satz. Aha, wie sympathisch. Noah Lloyd, der in einem abgewrackten Appartement in einer üblen Wohngegend im heruntergekommenen Berlin des Jahres 2069 lebt, hat seit seine Frau im Dienst erschossen wurde, niemanden mehr, wenn man von Yin und Yang absieht (das sind die zwei Brüste, die in riesiger Videoprojektion vor seinem Fenster schweben um Kunden für einen Nachtclub anzulocken). Nach dem Transfer seiner Frau in die sogenannte Sphäre - eine perfekte, virtuelle Kopie der Stadt, in der Menschen als 3D-Projektionen weiterleben können - fehlt ihm das Geld, um ihr nachfolgen zu können und so begnügt er sich mit dem Ausblick aus seinem Fenster und billigem Bier. Doch als ihm nach einem Anschlag auf seine Arbeitsstelle Goliath mehrere Morde angehängt werden, verliert er selbst das letzte Bisschen Normalität und muss vor einer Verschwörung fliehen, deren Wurzeln tiefer in der Realität und in der Sphäre verankert sind, als er es sich vorstellen kann...
Schon von Beginn an legt Uwe Hermann ein haarsträubendes Tempo vor und wirft den Leser in das dystopische Berlin, das vom Klimawandel, Kriminalität, Drogen, Prostitution und vor allem dem Wunsch nach einem Neuanfang, dem Neuanfang in der Sphäre, gezeichnet ist. Hier gibt es fliegende Autos, man bleibt durch Empathiephones in Verbindung, schaut auf Multimediatapeten Nachrichten, bezahlt mit Eurobits und die Stadtwerke regeln (wenn auch nicht besonders zuverlässig) das Wetter. Die interessanteste Neuerung im Jahre 2069 ist jedoch die Sphäre, die von den Gründern Salomon Engel und Armin Zeidler entworfen wurde und seitdem Hunderttausenden Menschen ein neues Leben abseits von Krankheit und Kriminalität ermöglicht hat. Zumindest sagen das die Werbekampagnen. Da die Regierung der Stadt den Transfer von sogenannten Essenzen in die Sphäre sowie der Kontakt über Twin-Cafés verboten hat, lässt sich das nicht mehr überprüfen und so wissen die hoffenden Hinterbliebenen nichts von Softwarefehlern, -ausfällen und der strikten Eintönigkeit der Computer-generierten Welt. Durch die Augen von Noah Lloyds Frau Rena dürfen wir einige Kapitel dieser haarsträubenden Geschichte in der Sphäre verbringen und die "Fehler in der Matrix" (an einigen Stellen musste ich tatsächlich immer wieder an diesen Science-Fiction-Schinken denken) hautnah erleben.
"Die werden uns töten." Jannes sagte kein Wort, aber sein Gesicht spiegelte seine Angst wider. "Was machen wir jetzt?", flüsterte Lloyd. Nathan zuckte mit den Schultern. "Na was schon? Wir versuchen zu überleben."
Leider bleibt uns auf den knapp 300 Seiten nicht viel Zeit um mehr als einen kurzen Blick auf das Berlin 2069 und das Leben in der Sphäre zu erhaschen. Uwe Hermann hat es aber geschafft, sein Setting zu mehr als nur einer spannenden Kulisse zu machen und die Absurditäten seiner Welt mit leisem Humor in den Mittelpunkt seiner Geschichte zu stellen. Besonders gut gefallen hat mir, dass der typische Humor seiner Kurzgeschichten die eher ernste Geschichte durchzieht wie ein leises Schmunzeln und immer wieder kleine Insiderwitze und kecke Ironie durchblitzen. Beispielsweise ist im Jahr 2069 der Berliner Flughafen immer noch nicht fertig gestellt und eine gewaltige Herde Einhörner des Computer-Spiels "World of Unicorns" spielt eine tragende Rolle. Ein weiteres Highlight bilden die abgefahrenen Kapitelüberschriften, die immer wieder Lust machen, gleich zum nächsten Kapitel zu greifen. Auch sonst schreibt er zielstrebig, flüssig und mit leisem Witz, sodass die Seiten nur so dahin fliegen.
Wunderbar ist auch, dass neben wilden Verfolgungsjagden, heftigen Explosionen und gefährlichen Schießereien auch spannende Geheimnisse, Verschwörungen und erstaunlich gut durchdachte Wendungen die Spannung einheizen. Vor allem in der letzten Hälfte des Buches, wo die Überlagerungen von Sphäre und Realität ein ums andere Mal meine Vorstellungskraft überstieg, nimmt jedoch der sehr cineastische Showdown überhand und es gibt kaum eine Seite auf der keine Roboter-Einheit herumballert, keine Schaltfläche brennend abstürzt oder eine Handgranate explodiert. Umso spannender sind die Auflösung am Ende und das Finale, welches absichtlich einige Fragen ungeklärt lässt.
"Scheint draußen immer noch zu regnen"; sagte er mit einem Blick auf ihre durchnässte Kleidung.
Nathan verzog das Gesicht. "Als stünde eine Sintflut bevor"
"Zeit wer es. Diese Welt ist im Arsch: Umweltverschmutzung, korrupte Politiker, Massenarbeitslosigkeit, Kriege und ein immer noch nicht fertiggestellter Flughafen."
Wer mich leider nicht wirklich überzeugen konnte war der Protagonist Noah Lloyd. Leider wird er in all dem Handlungsdurcheinander und im futuristischen Berlin nur recht oberflächlich gezeichnet und auch wenn man mit ihm mitfiebert, konnte ich ihn nicht wirklich ins Herz schließen. Besser behagt haben mir da seine ungleichen Begleiter, die sich im Laufe seiner Flucht um ihn scharen: eine katzenliebende Sekretärin, ein virtuelles Squad-Team, ein Millionär im falschen Körper, ein schmächtiger Hacker, ein riesiger Polizist, eine südkoreanische Großfamilie und ein Nachtclubbesitzer werden zu den heimlichen Helden dieser abstrusen Geschichte.
Fazit:
Ein rasanter Science-Fiction-Thriller voller verrückter Ideen, kurzweiliger Action, mit einem wilden Haufen an Protagonisten, wendungsreichen Handlungssträngen und leiser Ironie.
Originell, kurzweilig, temporeich erzählt und vor allem: erfrischend anders!