Cover-Bild Das braune Netz
22,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Rowohlt Berlin
  • Themenbereich: Geschichte und Archäologie - Geschichte
  • Genre: Sachbücher / Geschichte
  • Seitenzahl: 416
  • Ersterscheinung: 22.01.2019
  • ISBN: 9783737100397
Willi Winkler

Das braune Netz

Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde

Sie hatten ihre Karriere im Dienste des NS-Staates begonnen – und setzten sie bruchlos in der der neuen Bundesrepublik fort. So bereitwillig sie der braunen Ideologie gedient hatten, so engagiert traten sie nun für die Demokratie ein. Kriegsgerichtsräte fällten wieder ihre Urteile, einst regimetreue Professoren lehrten und die Journalisten aus den früheren Propagandakompanien schrieben, als hätten sie sich nichts vorzuwerfen. Damit gewann der junge Staat zwar politische Handlungsfreiheit zurück, gründete seinen Erfolg aber auf einen moralischen Widerspruch, der nicht aufzulösen war: Die Demokratie wurde mitaufgebaut von ihren Feinden.
Zum 70. Geburtstag der Bundesrepublik legt Willi Winkler eine schonungslose Betrachtung ihrer Frühgeschichte vor. Mitreißend und faktengesättigt beschreibt er, wie der westdeutsche Staat trotz all seiner Zerrissenheiten zum Erfolgsmodell wurde – und er zeigt, welchen Anteil vermeintlich oder tatsächlich geläuterte Nazis daran hatten. Eine Parabel über Schuld und Scham, über Bewältigung und Versöhnung, und zugleich eine zwingende Lektüre für alle, die dieses Land von Grund auf verstehen wollen.

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 17.05.2019

Erschreckend...

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Schon wieder so ein "Gruselbuch": Man liest es und hat das Gefühl (oder die stille Hoffnung?), eine Art alternative Geschichte in den Händen zu halten - denn klar war mir schon irgendwie bewusst, dass ...

Schon wieder so ein "Gruselbuch": Man liest es und hat das Gefühl (oder die stille Hoffnung?), eine Art alternative Geschichte in den Händen zu halten - denn klar war mir schon irgendwie bewusst, dass die alten Nazis nach dem Ende des 2. Weltkrieges nicht alle automatisch in der Versenkung verschwunden sind, aber dass es so schlimm war? Das hat mich dann an vielen Stellen doch ziemlich geschockt. Gut, die meisten "Größen" sind vor ihrer Verantwortung in der Tat geflüchtet - entweder via Übersee oder Suizid. Aber es gab eben viele, die übrig waren - und die nicht etwa ganz von vorne anfangen oder irgendwo in Schimpf und Schande ihr Dasein fristen mussten, sondern die einfach weitermachen konnten - unbehelligt, unverfolgt und - vielleicht am Erschreckendsten - ungemein wertgeschätzt.

Will Winkler nennt hierfür zahlreiche Beispiele aus den verschiedensten Bereichen, die sich in den jeweiligen Kapiteln wiederfinden: Politiker, Verwaltungsmenschen, Film- und Kunstschaffende, Journalisten und Schriftsteller, Professoren und Lehrende, Richter und Staatsanwälte, jede Menge weitere Personen des öffentlichen Lebens und natürlich Soldaten und Militärs (ja, hier wird wenig gegendert, aber die Beispiele beziehen sich bis auf sehr, sehr wenige Ausnahmen fast ausschließlich auf Männer, also seht es mir bitte nach). Klingt erschreckend? Sag' ich doch!

Wie muss man sich das vorstellen, in den ersten Jahren nach dem Krieg? Vereinfacht in etwa so: Wir brauchen Leute, die anpacken, die ihr Handwerk verstehen. Also schauen wir doch mal in den Bestand und besetzen z.B. den neuen Verfassungsschutz u.a. mit Ex-Gestapoleuten, tolle Idee, die kennen sich ja mit sowas aus (diese Verquickung zwischen Nazis und Verfassungsschutz ließ mich natürlich sofort an das denken, was Franziska Schreiber in "Inside AFD: Der Bericht einer Aussteigerin" publik gemacht und so im vergangenen Jahr den Stein in der "Causa Maaßen" ins Rollen gebracht hat - der Chef des Verfassungsschutzes warnt die Chefin der AfD vor anstehenden Untersuchungen, tsk, tsk, tsk). Oder die "Operation Gehlen", Vorgängerorganisation vom BND und "Parkplatz" für ehemalige Wehrmachts- und SS-Haudegen. Die Wirtschaft muss wieder angekurbelt werden, also macht man mit Flick und Co. mal etwas kürzeren Prozess und entlässt sie möglichst schnell wieder in den Kreislauf. Natürlich will das Volk auf dem Weg in den Aufschwung unterhalten werden, deswegen darf "Jud Süß"-Regisseur Veit Harlan auch weiter munter Film drehen, nur halt ohne Rassismus und Kriegspropaganda. Von der Beihilfe zur Verfolgung durch seine volksverhetzenden Machwerke wird er freigesprochen, von einem (nanu!) Richter, der noch Jahre zuvor als NSDAP-Staatsanwalt an einem Sondergericht Todesurteile wegen "Rassenschande" erwirkt hat. Die Juden, so heißt es in der Urteilsbegründung aus dem Jahr 1950, hätten ja "schon damals, 1940/1941, ins Kino gehen und Strafantrag wegen Beleidigung stellen können". Was will man dazu noch sagen?

Beispiel derart nennt Winkler zuhauf, und er liefert auch Theorien, wie es überhaupt soweit kommen konnte und warum es bis zum Eichmannprozess 1961 und den Studentenunruhen ab Mitte bis Ende der 60er brauchte, um überhaupt so etwas wie einen Bewusstseinswandel in Gang zu setzen:

- Ab in die Opferrolle: Eigentlich waren ja sowieso die Deutschen die Opfer, immer und überall. Krieg, Bomben, alles kaputt, können wir nichts für, wollten wir ja eigentlich auch gar nicht, konnte ja keiner ahnen! Diese grundgedankliche Stimmung vereint - zum gemeinsamen trauern, Wunden lecken und Nachweinen der "guten alten Zeit" (nicht Hitler, der war natürlich böse, aber sonst, herrje!)

- Der wahre Widerstand: Von innen heraus! Ein "Argument" (ich muss es in Anführungen setzen, weil es so abstrus ist) vieler ehemaliger Nazis und Funktionäre: Sie waren ja eigentlich gegen das alles, und sind nur deshalb in Deutschland und dabei geblieben, um "Schlimmeres" zu verhinden (was hätte denn doch "schlimmer" werden können?). Sie haben also quasi den Widerstand von innen heraus geleistet und sich so nützlich gemacht - ganz im Gegenteil zu Typen wie Thomas Mann oder Willy Brandt, die Deutschland in dieser schweren Not bei erster Gelegenheit im Stich gelassen und das Elend aus der Ferne betrachtet haben. Dieses "Argument" erschließt sich mir so wirklich überhaupt nicht, kam aber, und das ist das eigentlich Erschreckende, in den 50er Jahren richtig gut an - vor allem auch vor Gericht. Dazu passt die absolute Gedankenverdrehung, dass die echten Widerständler - Elsner, Stauffenberg und Co. - nach wie vor eher als Verräter am deutschen Volk gesehen und ihnen zunächst jegliche Formen der Ehrung abgesprochen wurden.

- Gemeinsam gegen den neuen alten Feind: Der Russe kommt! Und Kommunismus ist sowieso die größe Bedrohung überall. Diese Einstimmung auf den neuen Feind von ganz links außen bringt Schwung in die Bude, schweißt zusammen und sorgt für ein gemeinsames neues Ziel im Sinne paranoider Verbrüderlichung. Das Volk hat wieder etwas, wovor es sich gemeinsam fürchten kann, die Amis brauchen dringend einen Puffer gegen den entstehenden Ostblock, Deutschland kann sich also wieder beweisen (mit Hilfe von Gehlen, Verfassungsschutz und Co., siehe oben - ja, klar bedient man sich dann halt bei SS, SA, Gestapo und Co., aber Hitler ist ja tot und der Russe sehr lebendig, da muss man halt Abstriche machen!).

Seht mir diese von Zynismus nur so triefende Review nach, aber dieses Buch hat mich inhaltlich sehr aufgewühlt. Ich denke an die heutige Zeit, an die Vorwürfe aus der neurechten Ecke, dass es Zeit sei, diesen "Vogelschiss" endlich mal gut sein zu lassen - und dann lese ich über alle diese Männer (und wenigen Frauen), und wie sie nach dem Krieg einfach weiter machen konnten, als wenn nichts gewesen sei. Wie ein ganzes Volk weiter gemacht hat, als wenn nichts gewesen sei - wenn die "bösen Amis" die Bevölkerung mal mit Fotos und Videos aus den KZs konfrontiert haben, dann war das, ja pfui, war das wirklich nötig, so was Verstörendes? Echte Aufarbeitung? Ne, danke, lass' mal gut sein mit diesem Zeug, ist doch vorbei, Hitler ist doch tot. Erschreckend und beschämend zugleich.

Auf emotionaler Ebene hat mir das Buch also sehr gut gefallen - es hat mich wirklich sehr aufgeregt und ein dringendes Mitteilungsbedürfnis ausgelöst, immer ein gutes Zeichen. Und Willi Winkler war sehr akribisch: Mehr als 40 Seiten Fußnoten, jeder Schnipsel, jedes Zitat ist genaustens belegt. Allerdings liegt hierin die für mich auch kleine bittere Note des Werks: An vielen Stellen zu viel, zu ausführlich und dadurch leider auch etwas trocken. Gerade die Namensflut war teils sehr ausufernd und ich hatte, trotz Wikipedia, Fußnoten und Co., hier und da Mühe, am Ball zu bleiben. Aber vielleicht muss man auch nicht jede kleinste Anekdote im Gedächtnis behalten - die Auswahl ist auch so erschreckend groß genug.