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Veröffentlicht am 04.09.2020

Gesellschaftliche relevante Themen, die weh tun, das Ganze innovativ erzählt

Serpentinen
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Ein düsteres, sehr bedrückendes, teils geradzu ängstigendes Buch: Depression, Suizid(gedanken), Trauma, Alkoholsucht - die grobe Themenauswahl fungiert hier schon als Triggerwarnung.

Der Erzähler reist ...

Ein düsteres, sehr bedrückendes, teils geradzu ängstigendes Buch: Depression, Suizid(gedanken), Trauma, Alkoholsucht - die grobe Themenauswahl fungiert hier schon als Triggerwarnung.

Der Erzähler reist mit seinem jungen Sohn zurück in seine Heimat. Dort lauern natürlich an jeder Ecke Erinnerungen - für den Erzähler sind diese meist qualvoll und schmerzhaft, denn seine Vergangenheit wird von "unaussprechlichen" Tragödien geprägt. Sowohl Vater als auch Groß- und Urgroßvater haben sich umgebracht, die Umstände wurden danach jeweils totgeschwiegen. Nun ist der Erzähler selbst in dem Alter, in dem seine Ahnen meist schon aufgegeben hatten - und er weiß nicht, ob er stark genug ist, dem Schicksal zu entfliehen und seinen Sohn davor zu beschützen.

Bov Bjerg erzählt die Geschichte in Fragmenten - die Serpentinen sind nicht nur die kurvigen Straßen der Schwäbischen Alb, sondern auch die Erinnerungsverläufe, Wiederentdeckungen, Reminiszenzen. Außerdem wabert, je nach Alkoholspiegel, das Bewusstsein des Erzählers hin und her ("Reich mir mal noch ein Bier rüber"). Neben den bereits erwähnten Themen - intergenerationelles Trauma, versinnbildlicht durch Depression und Suizid - spielt auch Klassismus eine Rolle. Der Erzähler, mittlerweile studierter Soziologe, traut seinem eigenen Bildungsweg nicht; zu hoch hinaus ist er, der einfache Arbeiterjunge, gekommen, merkt das denn keiner?

Kurzum: Gesellschaftliche relevante Themen, die weh tun, das Ganze innovativ erzählt. Was mir hier besonders gefallen hat, ist die Darstellung der Krankheit Depression. Das Thema hält ja immer mehr Einzug, nicht nur im Sachbuch, und ist natürlich, wie die Krankheit selbst auch sehr unterschiedlich empfunden wird und "wirkt", auf verschiedene Weise darstellbar. Bov Bjerg wählt hier den steinigsten Weg. Sein Charakter steckt ganz tief drin in der Depression, seine Gedankenwelt sind von Suizidgedanken und dem Nachdenken über den (familiären) Suizid bestimmt, und auch die Zukunftsgedanken sind überwiegend düster bis grausam. Das ist schwere, harte Kost, auf die sich sicher nicht jeder Leserin einlassen will, was verständlich ist. Ich lobe Berg für seinen Mut, die dunklen Seiten der Krankheit so böse und direkt "nackt" zu zeigen - das zu lesen ist teils sehr ungenehm, aber manchmal nötig.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Ein tolles Buch, das mich sehr positiv überrascht hat.

Der Halbbart
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Ein Buch, das im Jahr 1313 in der heutigen Schweiz spielt (inklusive helevetischen Begriffen), erzählt von einem Jungen, und davon 688 Seiten? Ich gebe es zu, so richtig viel Bock hatte ich anfangs nicht ...

Ein Buch, das im Jahr 1313 in der heutigen Schweiz spielt (inklusive helevetischen Begriffen), erzählt von einem Jungen, und davon 688 Seiten? Ich gebe es zu, so richtig viel Bock hatte ich anfangs nicht auf den Halbbart. Aber schon nach wenigen Seiten war ich quasi schockverliebt in Sebi: Selten so einen tollen, einnehmenden, sympathischen Protagonisten/Erzähler erlebt! Und schwupps, das Buch las sich quasi von selbst. Das ist große Erzählkunst in 83 Kapiteln à 8 Seiten, die Charles Lewinsky hier abliefert.

Sebi, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte und Erzählung, ist ein Junge auf der Schwelle zum Erwachsenen, der nicht so recht weiß, was er will - oder kann. Als jüngster von drei Brüdern (in bester Märchenmanier ist der Älteste Geni weise und "gut", der mittlere Poli ein Unruhestifter) fällt es ihm nicht leicht, seinen Platz zu finden. Und so steckt er meist in der Rolle des Beobachters und Kommentators fest - für die Leserschaft ein echter Glücksfall, denn Sebi ist das, was man wohl landläufig "bauernschlau" nennt. Er hat ein Gespür für Menschen und Situationen und blickt schnell, was Sache ist. Diese clevere Auffassungsgabe ist ihm selbst aber gar nicht richtig bewusst, sodass er seine Beobachtungen und Überlegungen nie überheblich, sondern stets lakonisch-nonchalant, fast nebenbei schildert - was ihn umso glaubwürdiger und sympathischer macht.

Der titelgebende Halbbart läutet mit seinem Erscheinen den Beginn der Erzählung ein. Er ist ein mysteriöser Fremder, der aufgrund seines verunstalteten Äußeren (augenscheinliche Brandnarben) sein Pseudonym erhält. Die, die ihm nahestehen, - und da gehört Sebi schnell dazu - erfahren von seinem Schicksal und dem Antisemitismus, der ihn zum Flüchtigen machte.

Das Buch selbst ist ein Bildungsroman, Sebis Coming of Age, wenn man so will. Vor allem ist es aber eine große Liebeserklärung an die Fabulierkunst. Sebi erzählt vom Leben im Dorf (und da passiert eine Menge, wir sind mitten im Marchenstreit, die Hintergründe werden im Buch geschildert) und von vielen anderen Geschichten, die er gehört hat. Das Erzählen wird für ihn selbst immer wichtiger, bis hin zur wahren Bestimmung.

Viel historisches bla bla bla? Nicht nur, denn viele Themen im "Halbbart" sind gerade heute aktueller denn je. Denn Sebi merkt, was Geschichten in den falschen Händen oder ihr Erzählen mit falschen Absichten ausrichten können: Fake News, Medienmanipulation und Geschichtsrevision lassen grüßen. In dieser Hinsicht funktionieren die mittelalterlichen Mechanismen heute noch genauso "gut"...

Ein tolles Buch, das mich sehr positiv überrascht hat.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Ein wuchtiges Buch!

1000 Serpentinen Angst
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Ein wirklich tolles Buch, das mich in gleich mehrfacher Hinsicht überrascht hat. Zum einen, weil es formell so ganz anders war, als erwartet: Statt einer ruhigen, eher straighten Narrative springt die ...

Ein wirklich tolles Buch, das mich in gleich mehrfacher Hinsicht überrascht hat. Zum einen, weil es formell so ganz anders war, als erwartet: Statt einer ruhigen, eher straighten Narrative springt die Erzählung sowohl zeitlich als auch räumlich hin und her, vom Inneren eines Snackautomaten nach New York, vom Hier und Jetzt in die nahe und ferne Vergangenheit. Hinzu kommt, dass große Teile als eine Art Dialog angelegt sind, wobei die fragende Sprechstimme, auf die die Erzählerin auch nur bedingt Antworten gibt, nicht nur lange unklar bleibt, nein, sie nutzt auch durchgängig CAPS LOCK, was in meinem Internet-durchsetztem Hirn in Geschreie übersetzt wird ("WO BIST DU JETZT?"). Das mag sich jetzt alles ziemlich chaotisch und strukturlos anhören, aber Olivia Wenzel hat den Dreh raus: Sie schafft es, alle diese Versatzstückchen (plus die enorme Themenvielfalt, die ich noch gar nicht angesprochen habe) in ein sehr gut lesbares, unterhaltsames und vor allem kluges Buch zu verwandeln: It's a kind of literary magic ;)

Falls ihr also auch zu den Leser*innen gehört, die gerne wissen woran sie sind (Stichwort: wer spricht denn da nun?), kann ich euch nur raten: Nehmt es einfach so hin und lasst euch darauf ein, ohne weiter nachzudenken. So hat es bei mir auch geklappt, und ich muss sonst eigentlich auch immer ganz genau vorher wissen, was da nun Sache ist.

Auch inhaltlich hat dieses Buch eine Menge zu bieten. Die Protagonstin ist Tochter einer DDR-Rebellin (die wiederum Tochter einer strammen SED-Funktionärin ist) und eines Austauschstudenten aus Angola. Die Themen Rassismus, DDR, Systemtreue bzw- rebellion, PoC in der DDR usw. machen sich hier also schon von ganz alleine auf. Hinzu kommt, neben dem Offensichtlichen, weiteres Familiendrama, das schließlich im Verlust ihres Zwillingsbruders gipfelt. Auch queere Themen sind dabei: Die Protagonstin ist bisexuell - für sie quasi die Mitgliedschaft in einer weiteren marginalisierten Randgruppe.

Doch die Protagonstin reflektiert nicht nur Vergangenes, sondern auch neue Erfahrungen: Zum Beispiel, wie sie "schwarz sein" in den USA ganz neu erfährt - als Teil einer black community (die, und das ist die nächste Schleife der Reflexion, als gemeinsamen Nenner vor allem den gemeinsam erfahrenen Schwerz, das Leid, die Ausgrenzung hat...).

Ja, der Olivia Wenzel hat sich den Teller hier ordentlich voll gepackt - doch sie behält den Überblick. Auch hier erinnert mich das Buch an Brüder, einen Kandidaten der letztjährigen Longlist: Es sind fast alle relevanten Themen dabei, und keines kommt zu kurz - doch alles geschieht natürlich, fast beiläufig, hier wird kein mühsames Themenbingo gespielt, sondern die Lebensumstände einer jungen Frau geschildert, die nicht nur in eine, sondern ziemlich viele Schubladen gesteckt wird.

Ein wuchtiges Buch, das ich sehr gerne gelesen habe.

Veröffentlicht am 04.09.2020

Endzeitmärchen

Baba Dunjas letzte Liebe
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Ach, das war ein überraschend angenehmes, überwiegend ruhiges Endzeitmärchen. Also, gewissermaßen. Denn bis zu einem gewissen Grad realistisch ist die Geschichte schon, unter anderem in Svetlana Alexievichs ...

Ach, das war ein überraschend angenehmes, überwiegend ruhiges Endzeitmärchen. Also, gewissermaßen. Denn bis zu einem gewissen Grad realistisch ist die Geschichte schon, unter anderem in Svetlana Alexievichs Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft kommen ehemalige Rückkehrer*innen verstrahlter Gebiete zu Wort. Nun kann man die Geschichten dieser Menschen auf verschiedene Arten erzählen: Als melodramatische Heimkehr in die Hinterlassenschaften einer Katastrophe mit wenig hoffnungsvollem Blick auf die dort voherrschenden Bedingungen und Aussichten - oder als eine unterhaltsame, trotz aller Widrigkeiten lebensbejahende Erzählung einer hippieähnlichen Altenkommune, deren selbst erwähnter "Gnadenhof" in einer Todeszone liegt, macht man halt das Beste draus.

Ich muss es eigentlich nicht extra erwähnen, aber Alina Bronsky hat sich für Tür #2 entschieden, und das passt auch sehr gut. Unsere Erzählerin Baba Dunja ist eine dieser Heimkehrerinnen, die erste sogar, und somit quasi erste Neusiedlerin in ihrem alten Heimatdorf Tschernowo in der Todeszone rund um die Tschernobylruine. Weitere Alte folgen; Menschen, die ihr Ende sowieso schon nahen sehen und dies selbstbestimmt erleben möchten: Und zwar in diesem verstrahlten, von der Außenwelt ziemlich abgschnittenen Dorf, in dem die Toten nie so richtig verschwinden. Mir hat es sehr gefallen, vom Leben im Dorf und vor allem von der Gemeinschaft zu hören. Die Charaktere sind alle auf ihre Art sonderbar, wenn nicht kauzig, aber interessant; durch den Filter von Baba Dunja erhalten sie eine zusätzliche, oft amüsante Note. Als eines Tages Neulinge im Dorf auftauchen, wird das empfindliche Gleichgewicht der Gruppe gestört, was eine Kettenbewegung in Gang setzt, die die Dramatik der Geschichte voran treibt.

Die Story lebt von ihre skurrilen Personen, deren Gedanken und Handlungen, doch der ernste Untergrund der verstrahlten Umgebung, die das Setting bestimmt, wabert stets im Hintergrund, so wie Strahlung selbst, der man nicht entfliehen kann: Auch wenn man sie nicht sieht - sie ist immer da. Es sind Kleinigkeiten, die immer wieder daran erinnern: Warum die Dörfler sich nicht von ihren Enkelkindern besuchen lassen, warum einige der Jüngeren "seitdem" nie Kinder haben wollten - die Leute sind sich ihrem Risiko mit jeder Sekunde bewusst, sie lassen nur nicht zu, dass es ihr Leben bestimmt.

Kurzum: Gut erzählt, wieder einmal exzellent von Sophie Rois eingelesen, plus ein paar sehr emotionale Momente im letzten Drittel - das Hörbuch hat mir sehr gut gefallen.

Ein kleiner Hinweis noch zum Vergleich - ich hatte vor einiger Zeit im Rahmen einer Leserunde ein anderes Buch von Bronsky, Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche, gelesen. Dort hatte vor allem die unangenehme Hauptfigur für Unmut bei einigen Mitlesenden gesorgt. Bei Baba Dunja verhält sich das anders - zwar ist sie auch eine alte Frau ("keine 82 mehr!") und hat zu fast allem eine Meinung, allerdings ist sie grundsätzlich ein guter, herzlicher Mensch, ganz im Gegensatz zur manipulativen Tartarin Rosa. Also, solltet ihr der Autorin noch eine zweite Chance geben wollen, wäre dies Buch eine gute Wahl :)

Veröffentlicht am 04.09.2020

Mahler bleibt erstaunlich blass

Der letzte Satz
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Ach ja, also - das hat mich jetzt nicht so vom Hocker gehauen. Nun gut, eine reflektierende Novelle über die letzten Tage eines kranken Mannes ist natürlich per se schon mal kein Garant für lebensfrohe ...

Ach ja, also - das hat mich jetzt nicht so vom Hocker gehauen. Nun gut, eine reflektierende Novelle über die letzten Tage eines kranken Mannes ist natürlich per se schon mal kein Garant für lebensfrohe Duselei, aber diese Seiten haben mich doch erstaunlich wenig abholen können. Möglicherweise mag es daran liegen, dass ich alte Banausin nicht wirklich viel über Gustav Mahler weiß - jenem großen Komponisten, der im Zentrum dieses Werks steht.

Also habe ich im Vorfeld ein wenig Recherche betrieben, die mir den Mann und sein Leben näher bringen sollte - nur um dann festzustellen, dass ich die Liebe seines Lebens, seine Frau Alma, als Charakter irgendwie faszinierender fand: Ein Frau, der die Männer augenscheinlich reihenweise verfielen (quasi alle großen Künstler und/oder Kulturschaffenden jener Zeit), die von Ehe zu Äffäre und zurück schwebte, die ihre eigenen Talente hinten anstellte und - habe ich das noch gar nicht erähnt? - mehr als nur zweifelhafte Ansichten und Verbindungen der nationalsozialistischen und antisemitischen Natur hegte und pflegte.

Aber nun, hier steht der Mann im Mittelpunkt, nicht diese unethisch schillernde Frau, aber ich kam beim Lesen/Hören nicht umhin, dauern auf Almas Auftritte in der Erzählung zu warten (und es waren mir zu wenige). Ansonsten plätscherte das Buch eher so dahin, ähnlich der Reise, auf die sich der große Komponist befindet. Er sitzt überwiegend an Deck eines Dampfers, lässt sich von einem Schiffsjungen hegen und pflegen und horcht sehr tief in seine Schmerzen und den sich bereits ankündigenden Todeskampf hinein. Auch die Erinnerungen, die sein Geist hervorruft, sind zu großen Teilen dramatisch-trauriger Natur: Der Tod der älteren Tochter, die Fast-Trennung von seiner Frau, die immer wiederkehrenden Krankheitsschübe. Hingegen klingt die Liebe zu Alma schon fast überromantisiert. Aber nun, große Menschen, große Gefühle?

Das war alles gut zu lesen und zu verstehen, irgendwie aber erstaunlich mild und ruhig mit starker Jammer-Tendenz - war Mahler eine deratige Dramaqueen? Ich vermag es nicht zu beurteilen, aber irgendwie entstand bei mir dieses Bild. Alles in allem also "joa, okay" für mich. Und gut gelesen von dem tollen Matthias Brandt (ich habe zwischen Hörbuch und ebook gewechselt), der dem teils sehr leidvollem Text etwas mehr Tiefe verlieh, die sich beim Lesen wieder leicht verflüchtigte. Ebenso wie mein Eindruck von diesem Buch, befürchte ich.