Tristes Manila 1902 vs. Beschwingtes Los Angeles 1936
William Boyds »Die blaue Stunde« ist ein Roman über eine ganz besondere Liebe. Aber er hat mich persönlich irritiert und lässt einen faden Beigeschmack in mir zurück. Dennoch kann ihn gut empfehlen, denn ...
William Boyds »Die blaue Stunde« ist ein Roman über eine ganz besondere Liebe. Aber er hat mich persönlich irritiert und lässt einen faden Beigeschmack in mir zurück. Dennoch kann ihn gut empfehlen, denn Lesegeschmäcker sind höchst unterschiedlich. Den Grund meiner Irritation werde ich weiter unten noch begründen.
Abgesehen vom Prolog beginnt die Handlung im Los Angeles von 1936. Die junge Architekten Kay Fischer hat gerade Zoff mit ihrem Architektenpartner in der gemeinsamen Firma. Sie prozessiert gegen ihn und muss dabei weiterhin versuchen Geld zu verdienen. Da läuft ihr wie zufällig ein älterer Herr über den Weg. Beinahe stalkt er sie. Irgendwann stellt er sich der Architektin als Dr. Salvadore Carriscant vor und eröffnet ihr, dass er ihr Vater wäre. Anfänglich hält Fischer ihn für einen Spinner. Doch Schritt-für-Schritt kann sie sich seinen Argumenten und Worten nicht verschließen. Carriscant will ihr beweisen, dass er ihr Vater ist und überredet sie zu einer Reise nach Lissabon .
Ich habe mich zu Beginn des Romans wohlgefühlt. Los Angeles 1936. Eine Atmosphäre wie beim „großen Gatsby“ wird in mir erzeugt. Ich fiebre mit der Protagonistin im Kampf gegen ihren ehemaligen Geschäftspartner mit. Irgendwie hat alles etwas von Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Die Ich-Perspektive versetzt mich als Leser direkt in die Protagonistin hinein.
Doch dann kommt der Bruch. Es geht vierunddreißig Jahre zurück ins Jahr 1902 nach Manila. Von hier stammt Carriscant. Der Wechsel des Erzählers zur dritten Person unterstreicht die Rückblende. Diese zieht sich über mehr als zweihundert Seiten hin. In ihr wird die Geschichte von ihm, einem Chirurgen, erzählt. Die Philippinen sind von den Amerikanern besetzt. Erst fünfzig Seiten vor Ende des Romans geht es zurück ins Jahr 1936 nach Lissabon. Wir treffen die sympathische Kai Fischer endlich wieder, um die Geschichte, die mit dem mysteriösen Erscheinen eines angeblichen Vaters begann, zu Ende zu bringen .
Ich habe mich von den ersten Seiten in die Irre führen lassen. Dieser erste Teil ist sehr spannend. Der Kampf um den Aufbau eines neuen Architekturbüros und der Streit mit dem Ex-Partner, dazu der Tod des Kindes sind mit vielen spannenden Momenten und Fragen gespickt. Durch die Ich-Erzählerin ist man im Kopf der anziehenden Protagonistin. Man rauscht nur so durch die Seiten.
Dann die Geschichte um den angeblichen Vater. Sie scheint von einem anderen Autor geschrieben zu sein. Durch den Wechsel der Erzählperspektive beeinflusst. Sie zieht sich in großen Teilen einfach nur in die Länge. Jetzt ist Carriscant der Protagonist, aber nicht gerade sehr liebenswert für mich als Leser. Andere Leser mögen das durchaus anders sehen. In diesem zweiten Teiles gibt es zwar Leichen und es werden Mordermittlungen durchgeführt, aber dennoch fehglt es an Spannung. Diese Kriminalfall interessiert mich persönlich genauso wenig wie die Chirurgie und die Ränke innerhalb der Ärzteschaft. Aufgeblasen ist diese Geschichte zusätzlich mit einer Geschichte um einen Flugmobil. Diese hat nicht einmal irgendetwas mit der großen Liebesgeschichte zu tun, die den zweiten Teil beherrscht. Es wirkt schlicht und einfach an den Haaren herbeigezogen. Es drängt sich mir die Frage auf, was will Boyd mir sagen?
Erst im dritten Teil führt uns der Autor zu den Anfängen mit Fischer und ihrem vermeintlichen Vater zurück. Hier werden die offenen Fäden aus dem zweiten Teil verknüpft. Es gibt eine plausible Lösung für die zentrale Frage des Romans .
Der Schreibstil liest sich angenehm, auch wenn der Erzähler in der dritten Person nicht so frisch wie in der ersten Person klingt. Jedoch wurde den unsympathischen Figuren einen größeren Raum als den sympathischen Figuren eingeräumt. Zugunsten einer aufgeblasenen Liebesgeschichte wurde auf die interessanten Abenteuer im Geschäftsleben einer jungen Amerikanerin verzichtet. Empfehlenswert und lesbar ist der Roman allemal. Nur ich persönlich hätte gerne viel mehr über Kay Fischer und ihr Wirken in Los Angeles erfahren.
© Detlef Knut, Düsseldorf 2020