In Form und Inhalt konsequent erzählte Lebensgeschichte
Wir begleiten Ludlow Washington zu Beginn des 20. Jahrhunderts als fünfjährigen Jungen in ein Heim für blinde, schwarze Kinder; zu seinem ersten Engagement als Blasmusiker in eine Südstaaten-Bar; nach ...
Wir begleiten Ludlow Washington zu Beginn des 20. Jahrhunderts als fünfjährigen Jungen in ein Heim für blinde, schwarze Kinder; zu seinem ersten Engagement als Blasmusiker in eine Südstaaten-Bar; nach New York zum großen Erfolg und später mit zum Karrierefall. Ludlow ist ein Genie des Jazz, welchen er wie ein Handwerk betreibt, und er ist blind, und er ist schwarz.
All diese Faktoren verwebt William Melvin Kelley in seinem zweiten auf Deutsch - und viele Jahrzehnte nach der Erstveröffentlichung - erschienenem Roman "Ein Tropfen Geduld". Der Plot wird durchweg flott erzählt. Die Zeit- und Ortswechsel der sechs Romanteile werden durch den gekonnten Einsatz von fiktiven Interviewausschnitten mit dem scheinbar älteren und erfolgreichen Jazzmusiker Ludlow eingeleitet. So springt man viel schneller als erwartet weg vom Heim für Blinde, in welchem - nach nur wenigen Zeilen klar - scheußliche Dinge geschehen. Und landet elf Jahre später mit dem jugendlichen Ludlow bei seinem neuen "Besitzer" (aka Vormund, der ihn jedoch dem Heim aufgrund dessen Talent "abgekauft" wurde) und dessen Band. So zügig geht es durch das gesamte Buch. Was zunächst gewöhnungsbedürftig ist und das Gefühl hinterlässt, man hätte auch ein mindestens doppelt so dickes Buch lesen können und wollen, wirkt im Gesamtkonzept des Buches schlüssig. Ebenso schlüssig erklärt Gerald Early in seinem Nachwort aus dem Jahre 1996, dass Kelley in die Lebensgeschichte Ludlows nicht nur die Geschichte der Afroamerikaner*innen im frühen 20. Jahrhundert sondern auch die musikgeschichtlichen/-theoretischen Phasen des Jazz einwebt. Das ist im Rückblick ganz gekonnt gemacht und schafft somit ein großartiges Buch über ein Einzelschicksal, ein Massenschicksal und ein Musikphänomen.
Besondere Klasse macht für mich aber der konsequente Stil, in dem der Roman geschrieben ist, aus. So schildert Kelley von der ersten bis zur letzten Zeile mithilfe des personalen Erzählers Ludlows Leben allein durch akustische, olfaktorische, gustatorische und haptische Beschreibungen. Nicht ein einziges Mal tauchen visuelle Reize im Buch auf. So legt, laut Gerald Early, der Roman nahe, dass race eine Illusion ist, die jene blind macht, die eigentlich sehen können. Aber selbst ohne diese tiefere Deutung, ist es einfach ein ungewöhnliches und dadurch großartiges Leseerlebnis über 260 Seiten hinweg, Wahrnehmungen zu schärfen, die leider für Sehende häufig völlig außen vor bleiben. Diese Eindrücke, in ihrer Komplexität genauso wie in ihrer Einfachheit der Erkenntnis, hallen noch lang nach und lassen hoffen, dass sich der Verlag bald dazu entschließt, weitere Werke von Kelley auf Deutsch zu veröffentlichen.