Emotionsgeladene Familiensaga um die Verluste einer Mi‘kmaq-Familie
Beeren pflückenDer Debütroman von Amanda Peters, die selbst u.a. Mi‘kmaq-Vorfahren hat, dreht sich um eine Familie ebendieses indigenen Volkes. Die Erzählung erstreckt sich vom Jahre 1962, in dem die kleine vierjährige ...
Der Debütroman von Amanda Peters, die selbst u.a. Mi‘kmaq-Vorfahren hat, dreht sich um eine Familie ebendieses indigenen Volkes. Die Erzählung erstreckt sich vom Jahre 1962, in dem die kleine vierjährige Ruthie verschwindet, als sich die Familie auf dem Gebiet Kanadas ansässige Familie wie jedes Jahr als Beerenpflücker auf nach Maine in den USA macht, bis in die Gegenwart, in der der ältere Bruder Ruthies Joe im Sterben liegt. Gleich im Prolog wird angedeutet, dass viele Jahrzehnte nach ihrem Verschwinden eventuell die, die mal Ruthie war, ihren Weg zurück zu ihrer Familie findet. Diese Lücke von mehreren Jahrzehnten schließt die Autorin in ihrem Roman über Familienbande, persönliche Tiefen und Verluste.
Erzählt wird die Geschichte in Kapiteln, die immer im Wechsel zwischen „Joe“ und „Norma“ präsentiert werden. Schon beim Lesen des Klappentextes sollte jeder Person klar werden, dass es sich bei „Norma“ um keine andere als das vermisste Familienmitglied „Ruthie“ handelt. Aus Joes Sicht erfahren wir, wie die Familie das Verschwinden der kleinen Ruthie damals erlebt hat, wie sie jahrelang nach ihr suchten, vergeblich. Wie es weitere Verluste der ein oder anderen Art in der Familie zu verkraften gab. Dabei ist Joe definitiv kein Sympathieträger, was seine Geschichte allerdings umso eindringlicher macht. Ein Mensch, der an dem empfundenen Schuldgefühl, auf seine nur zwei Jahre jüngere Schwester damals nicht genug aufgepasst zu haben und damit an ihrem Verschwinden schuld zu sein, zerbricht und sich erst kurz vor seinem nahenden Tod wieder langsam zusammensetzt. Die Autorin findet dahingegen eine Stimme für Norma, die nichts von ihrem Ursprung wissen kann, die demnach zwar nicht vollkommen naiv durch ihr Leben wandelt, aber die merkwürdigen Ahnungen, die sie ihr Leben lang immer wieder erfüllen, nicht einordnen kann. Norma wächst bei einer wohlhabenden Familie in Maine auf, wodurch wir nicht nur Einblick in das Leben von indianischen Wanderarbeiterfamilien bekommen, sondern auch in dieses eher durchschnittliche „Mainstream“-Leben in den USA. Dass sich die beiden Erzählstränge unaufhörlich aufeinander zu bewegen, ist von Anfang an klar, macht das Buch aber dadurch keinesfalls minder spannend. Peters konzentriert sich auf die Entwicklung der Figuren und bietet durch die personal-wechselnde Erzählstimme einen authentischen Blick in die Leben der beiden Hauptfiguren. Aber auch die Nebenfiguren werden durch die Augen unserer beiden Protagonist:innen mit wenigen Strichen gezeichnet und werden dadurch greifbar.
Amanda Peters hat mich mit ihrem angenehmen Schreibstil sofort in die Geschichte gezogen, der ich kaum aufhören wollte zu folgen. In diesem Buch ist der Weg das Ziel. Hier soll nicht das Ende überraschen, sondern Menschen die Möglichkeit gegeben werden, ihre Geschichte zu erzählen. Beziehungsweise zwei Geschichten, die sich nur dadurch unterscheiden, in welcher Familie, mit welcher angeblichen Abstammung man aufwächst und damit auch deutlich andere Chancen im leben bekommt.
Die Psychologie hinter dem Verschwinden von Ruthie und wie sie in ihrer neuen Familie landet wird dabei nur angedeutet. Dies ist im Rahmen der beiden Erzählperspektiven, welche auf Joe und Norma beschränkt sind, nur logisch. Trotzdem hätte ich mir ihr ein klitzekleines Bisschen mehr psychologischen Einblick in eine bestimmte Nebenfigur, welche damit zu tun hat, gewünscht. Dies stellt allerdings nur einen persönlichen Kritikpunkt auf hohem Niveau dar, denn mit diesem Einblick wäre der Kern des Romans verschoben worden.
Insgesamt bin ich also sehr begeistert von diesem Debütroman, der mich von Anfang bis Ende fesseln konnte. Nur den deutschen Titel finde ich nicht annähernd so passend wie den englischen Originaltitel, der da ist „The Berry Pickers“, denn dieser setzt die Mi‘kmaq-Familie, die sich als Wanderarbeiter verdingen muss, ins Zentrum. „Beeren pflücken“ klingt dahingegen nichtssagend und austauschbar.
4,5/5 Sterne