Jede:r ist des eigenen Glückes Schmied:in... oder doch nicht?
„Selbst schuld!“ ist ein Essayband, der sich mit dem immer präsenter werdenden Druck auf das Individuum auseinandersetzt, Verantwortung und Schuld für gesellschaftliche Krisen zu übernehmen. Die Herausgeber:innen ...
„Selbst schuld!“ ist ein Essayband, der sich mit dem immer präsenter werdenden Druck auf das Individuum auseinandersetzt, Verantwortung und Schuld für gesellschaftliche Krisen zu übernehmen. Die Herausgeber:innen Wolfgang M. Schmitt und Ann-Kristin Tlusty gehören zu den aufstrebenden Stimmen der aktuellen Kulturkritik: Schmitt ist bekannt durch seinen Youtube-Kanal Die Filmanalyse und den wirtschaftskritischen Podcast Wohlstand für alle, Tlusty arbeitet als Kultur- und Redaktionswissenschaftlerin bei Zeit Online und hat bereits eigene Essays veröffentlicht. Sie haben für diesen Band dreizehn Autor:innen eingeladen, die in persönlichen Essays über soziale Schuldzuschreibungen und gesellschaftliche Missstände schreiben.
Worum geht's?
Die Essays widmen sich der Frage, warum das Individuum immer wieder die Schuld für gesellschaftliche Probleme tragen soll, die in Wahrheit systembedingt sind. Ob Klimawandel, Armut oder soziale Gerechtigkeit – immer öfter wird suggeriert, dass einzelne Menschen ihre Probleme nur durch Eigenverantwortung lösen könnten. Die Autor:innen gehen darauf ein, wie das neoliberale System das Individuum zum Sündenbock macht, um von strukturellen Ursachen abzulenken. Die Beiträge reichen von sachlichen Analysen über autobiografische Berichte bis hin zu Essays mit ironischen Untertönen. Ein Beispiel ist das Vorwort, in dem bereits deutlich wird, wie der „Schuldvorwurf“ als Instrument genutzt wird: Statt das System zu hinterfragen, wird Schuld auf Streikende, Betroffene sexualisierter Gewalt oder den Klimaschutz übertragen. Ein wichtiges Thema ist auch, wie sich Scham und Schuld zu einer sozialen Kontrolle verbinden und die Eigenverantwortung dem Gemeinwohl entgegenstellt.
Meine Meinung
Als große Liebhaberin von Essaybänden, besonders wenn sie aktuelle und sozialkritische Themen ansprechen, hat mich "Selbst schuld!" sofort angesprochen, und meine Erwartungen wurden wieder einmal mehr nicht enttäuscht. Essays wie „Aufstiegsgeschichten“ von Sarah-Lee Heinrich, „Recht“ von Maximilian Pichl und „Instagram“ von Şeyda Kurt bieten spannende Perspektiven auf die Frage, wie gesellschaftliche Strukturen und ihre Missstände Menschen subtil zur Selbstbeschuldigung drängen. Besonders gefallen haben mir die abwechslungsreichen Formate und der Ansatz, Themen mal sachlich-analytisch und mal autobiografisch-persönlich zu behandeln, was dem Essayband eine schöne Vielfalt verleiht.
Die Texte zeigen, wie tief verankert die neoliberale Überzeugung ist, dass jede:r das eigene Glück schmieden kann, und wie diese Ideologie Probleme wie Armut und Ungleichheit ignoriert oder sogar auf die Betroffenen selbst projiziert. Das Vorwort bringt dies hervorragend auf den Punkt, wenn es aufzeigt, wie bequem es ist, wenn Einzelne die Verantwortung übernehmen sollen – anstatt das System infrage zu stellen. Mich hat der Band in vielen Themen neu sensibilisiert, besonders im Hinblick auf Klassismus, den ich bisher nicht im Detail betrachtet hatte. Einzige kleine Schwäche: Einige Essays hätten einheitlich gegendert sein können, da das teils uneinheitlich gehandhabt wird, was den Lesefluss stört. Dennoch verstehe ich, dass hier die persönliche Schreibweise der Autor:innen Vorrang hatte. Und natürlich sprechen einen manche Beiträge mehr an als andere. So waren bspw. meine Highlights die Beiträge von Sarah-Lee Heinrich ("Aufstiegsgeschichten"), Maximilian Pichl ("Recht"), Özge İnan ("Sexualisierte Gewalt") Sophie Lewis ("Familie"), Şeyda Kurt ("Instagram") und Sebastian Friedrich ("Klima").
Fazit
"Selbst schuld!" ist ein hochaktueller und reflektierter Essayband, der wichtige Fragen stellt und deutlich macht, dass gesellschaftliche Verantwortung nicht allein bei den Einzelnen liegen kann. Eine klare Empfehlung für alle, die sich kritisch mit den Mechanismen der Schuldzuschreibung und dem Einfluss des Neoliberalismus auseinandersetzen möchten. 4,5 von 5 Sternen.