Eine narzisstische Mutter und ihre beiden Töchter
Regina, Jahrgang 1948, wird Anfang der 1980er Jahre Mutter zweier Töchter: Wanda und Antonia. Sie arbeitet als psychologische Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis, lebt mit Edgar in einer soliden, ...
Regina, Jahrgang 1948, wird Anfang der 1980er Jahre Mutter zweier Töchter: Wanda und Antonia. Sie arbeitet als psychologische Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis, lebt mit Edgar in einer soliden, aber eher leidenschaftslosen Ehe und definiert sich über ihre Intelligenz, ihren Erfolg und ihre schlanke Figur. Kritisch und erbarmungslos richtet sie ihren wertenden Blick auf alle Menschen in ihrem Umfeld, besonders auf andere Frauen, und auf ihre Töchter. Von der stillen, einfühlsamen und etwas pummeligen Antonia ist sie maßlos enttäuscht. Wanda hingegen ist mehr eine Tochter nach ihren Erwartungen, sehr dünn und hübsch, hochintelligent und ehrgeizig, ein Ebenbild der Mutter in allen Bereichen. Dass Wanda eine ernsthafte Essstörung entwickelt und ebenfalls an den unerfüllbaren Erwartungen an sie leidet, will die Mutter lange nicht sehen, und ihren eigenen Anteil daran leugnet sie bis zuletzt.
Das knapp 400 Seiten lange Buch ist in drei Teile geteilt. Der erste Teil, knapp 200 Seiten, beschreibt die Familie im Jahr 1998 und im Jahr danach, als erst Wanda und dann Antonia Abitur machen. Der zweite Teil, etwa 100 Seiten, spielt im Jahr 2010: die Töchter sind um die 30, die Eltern sind deutlich älter geworden. Und schließlich begleiten wir die Familie auf den letzten 100 Seiten durch die Jahre 2019 bis 2020, bis zum Beginn der Coronapandemie. Beide Töchter werden auch selbst Mütter und wir erleben auch mit, wie sie nun mit ihren eigenen Kindern umgehen.
Es ist also auch neben einer Mutter-Töchter-Erzählung auch eine weibliche Entwicklungsgeschichte und wir erleben die Hoffnungen, Träume, Ziele, Pläne, aber auch Rückschläge und Enttäuschungen der drei Frauen über mehr als zwei Jahrzehnte mit. Begleiten die beiden Mädchen von der Teenagerzeit bis in ihre 40er-Jahre und erleben mit, wie sie sich schrittweise zu eigenen Persönlichkeiten entwickeln und nach und nach auch die Kraft entwickeln, der dominanten und urteilenden Mutter zumindest ein bisschen die Stirn zu bieten und für ihre eigenen Lebensentwürfe einzustehen.
Insgesamt ist es ein sehr interessantes und psychologisch feinsinniges Buch für alle, die sich für Mütter-Töchter-Beziehungen, für Entwicklungsromane und auch für die Unterschiede zwischen verschiedenen Generationen interessieren. Ich bin etwas jünger als die beiden im Buch vorkommenden Töchter und kenne viele Frauen aus der Generation von Regina - in vielem habe ich die Spannungen vieler Frauen meiner Generation im Verhältnis zu ihren Müttern wiedererkannt.
Da wird im Buch sehr gut aufgezeigt, welche Schattenseiten gerade auch die Anspruchshaltung an Frauen, sie sollten stark sein und alles verwirklichen, sollten gleichzeitig die traditionell männlich wie die traditionell weibliche Rolle erfüllen, beruflich sehr erfolgreich, intelligent, leistungsfähig und stark sein, aber auch die Familie im Griff haben und sich niemals schwach zeigen, mit sich bringt. Wie diese Sozialisierung oft zu Lasten des Zulassens der eigenen Emotionen, aber auch des Mitfühlens mit anderen geht, und damit echte Beziehungen zu anderen, auch zu den eigenen Kindern, unmöglich macht. Solche durch die gesellschaftlichen Umstände narzisstisch geprägten Frauen wie Regina gibt es viele, und auch viele ihrer Töchter, die ähnlich darunter leiden wie Antonia und Wanda. Hier ist das Buch also sehr authentisch und wirklich gelungen.
Insbesondere die zweite Hälfte des Buches hat mich beim Lesen auch sehr gefesselt. Auf den ersten 100 bis 150 Seiten hingegen war mir das Buch etwas zu langatmig, gerade die allererste geschilderte Lebensphase, um die Abiturzeit der beiden Mädchen herum, wird ausführlichst geschildert, ohne dass die Handlung wirklich viel voranschreitet. Anfangs war ich mir deshalb gar nicht sicher, ob ich das Buch wirklich zu Ende lesen will, rückblickend bin ich aber nun froh darüber und es ist in den späteren Abschnitten deutlich spannender geworden.
Ein Detail finde ich auch eher unrealistisch bzw. möglicherweise nicht so genau recherchiert: Reginas psychotherapeutische Privatpraxis wird als der leichtere Karriereweg im Vergleich zu einer wissenschaftlichen Karriere dargestellt, als etwas, das Regina halt neben den Kindern noch schnell erreichen konnte, während ein Doktoratsstudium zu dieser Zeit nicht mehr möglich gewesen wäre. Es wird beschrieben, dass Regina als junge Frau erst jahrelang ziellos Lehramt studiert hätte, dann Jahre in Südamerika verbracht hätte und danach dann noch schnell Psychologie studiert und Psychotherapeutin geworden wäre, während sie schon Anfang 30 ihre zwei Kinder bekommen habe.
Wer sich mit dem Psychologiestudium und der darauf folgenden anspruchsvollen postgraduellen Ausbildung auch nur ein bisschen auskennt, weiß, das ist zeitlich sehr unrealistisch, auch wenn man intelligent und ehrgeizig ist wie Regina. Und selbst wenn, dann bedeutet ein Psychologiestudium samt mehrjähriger psychotherapeutischer Weiterbildung einen Aufwand, der in Summe sicher nicht geringer ist als ein Psychologiestudium plus Doktorat. Wer das gemacht hat, so wie Regina in dem Buch, der würde das wissen, insofern wirkt das etwas unrealistisch. Zur narzisstischen Persönlichkeit Reginas passt es natürlich, dass sie sich unzulänglich fühlt und das Gefühl hat, ihr überragendes Talent beruflich nicht genug verwirklicht zu haben, doch hätte sich hier vielleicht ein passenderes Beispiel finden können.
Abgesehen von diesem Detail und dem, wie gesagt, etwas langatmigen ersten Teil, ist es aber ein durchaus sehr gelungenes und psychologisch tiefgründiges, authentisches Buch, das zum Nachdenken anregt. Wohlfühlbuch ist es aber eher keines, dafür sind die vorkommenden Konflikte zu heftig und insbesondere Regina in ihrer Unbarmherzigkeit deutlich zu unsympathisch.
Es ist ein gutes Buch, aber kein sonderlich schönes. Dazu passt dann wiederum auch wieder der etwas sperrige Titel, auf den im Buch nur kurz Bezug genommen wird und der sich erst bei genauerem Darüber-Nachdenken als Metapher erschließt.