Realität, die oft unerwarteter ist als Fiktion
Im Buch „Der Stammhalter“ erzählt Alexander Münninghoff die Geschichte seiner eigenen Familie, die mit seinem Großvater Joan Münninghoff beginnt, der im Jahr 1917 im lettischen Riga die zukünftige Großmutter ...
Im Buch „Der Stammhalter“ erzählt Alexander Münninghoff die Geschichte seiner eigenen Familie, die mit seinem Großvater Joan Münninghoff beginnt, der im Jahr 1917 im lettischen Riga die zukünftige Großmutter des Autors kennenlernt. Zwei Jahre später wurde die Ehe geschlossen aus der vier Kinder hervorgingen.
Der Niederländer Joan Münninghoff gründete während des ersten Weltkriegs eine Exportfirma in Dänemark und ließ sich später in Lettland nieder. Durch seine erfolgreichen Geschäfte war er wohlhabend und gelangte dadurch zu einigem Einfluss. Permanent vergrößerte er sein Unternehmen. Um die vier Kinder des Ehepaars Joan und Erica Münninghoff kümmerte sich hauptsächlich eine Gouvernante. Frans, der Erstgeborene und Vater des Autors, sollte als Stammhalter später die Geschäfte weiterführen. Mit elf Jahren wurde er auf ein Internat in die Niederlande geschickt. Doch Zeit seines Lebens hat Frans sich nie als Niederländer gesehen.
Der zweite Weltkrieg ließ Joan und seine Familie im Jahr 1940 aus Lettland in das niederländische Voorburg in der Nähe von Den Haag flüchten. Sobald es ihm möglich war, schloss Frans sich der deutschen Waffen-SS an. Arbeitete er zunächst als Dolmetscher so kämpfte er später an der vordersten Front. Für seinen Vater ist und bleibt er ein Querulant, was sich in vielen geschilderten Ereignissen zeigt. Die Geburt von Alexander im Jahr 1943 nahm das Familienoberhaupt wohlwollend zur Kenntnis und setzte kurz nach dem Krieg alles daran, das Sorgerecht für den Enkel auf die Seite seines Sohns zu bekommen als dieser sich von seiner Frau trennte.
Die wahre Geschichte der Familie Münninghoff liest sich stellenweise spannender als mancher Roman mit fiktiven Charakteren. Der Autor gibt sich zunächst als neutraler Erzähler. Anhand von Gesprächen und Schriftgut hat er das Leben seines Großvaters und Vaters gekonnt rekonstruiert und schildert sowohl bedeutende Ereignisse als auch unbedeutend erscheinende Begebenheiten, die aber ungeahnte Auswirkungen haben. Er lässt das unbeschwerte, manchmal ausgelassene Leben in Riga wiederaufleben genauso wie die schwierigen Kriegsjahre, in denen vor allem Joan manche Beziehung zum Erhalt der Normalität spielen ließ. Alexander Münninghoff erklärt Zusammenhänge soweit sie sich ihm erschließen, räumt aber eine dunkle ungeklärte Seite im Leben seines Großvaters ein, durch die er seinen Willen umsetzen konnte.
Überrascht hat mich vor allem ein Teil der Geschichte, in dem das rigorose Eingreifen des Großvaters es verhindert hat, dass der Autor vielleicht so wie ich im Kreis Heinsberg aufgewachsen wäre. Besonders hier zeigt sich die Stellung Joans als Großvater, Vater und Ehemann, der von seinen Angehörigen Treue und Ergebenheit erwartet, nichts darf den Ruf der Familienehre trüben. Ab einem bestimmten Zeitpunkt stellt Alexander Münninghoff seine Wahrnehmung der Dinge auf den Prüfstand. Er beginnt gewisse Ereignisse zu hinterfragen. Aus dem inzwischen zeitlichen Abstand heraus sieht er sein Verhältnis zu Vater und Mutter zunehmend differenzierter. Sein persönliches Schicksal lehrt die Bereitschaft zur Vergebung und der Akzeptanz der gegebenen Umstände.
Im Roman „Der Stammhalter“ hat Alexander Münninghoff sich mit seiner familiären Vergangenheit auseinandergesetzt und sie in den historischen Kontext eingebunden. Manches reale Ereignis ist dabei unerwarteter als eine Fiktion. Insgesamt eine faszinierende Geschichte, die ich gerne weiterempfehle.