Ach, das war ein überraschend angenehmes, überwiegend ruhiges Endzeitmärchen. Also, gewissermaßen. Denn bis zu einem gewissen Grad realistisch ist die Geschichte schon, unter anderem in Svetlana Alexievichs Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft kommen ehemalige Rückkehrer*innen verstrahlter Gebiete zu Wort. Nun kann man die Geschichten dieser Menschen auf verschiedene Arten erzählen: Als melodramatische Heimkehr in die Hinterlassenschaften einer Katastrophe mit wenig hoffnungsvollem Blick auf die dort voherrschenden Bedingungen und Aussichten - oder als eine unterhaltsame, trotz aller Widrigkeiten lebensbejahende Erzählung einer hippieähnlichen Altenkommune, deren selbst erwähnter "Gnadenhof" in einer Todeszone liegt, macht man halt das Beste draus.
Ich muss es eigentlich nicht extra erwähnen, aber Alina Bronsky hat sich für Tür #2 entschieden, und das passt auch sehr gut. Unsere Erzählerin Baba Dunja ist eine dieser Heimkehrerinnen, die erste sogar, und somit quasi erste Neusiedlerin in ihrem alten Heimatdorf Tschernowo in der Todeszone rund um die Tschernobylruine. Weitere Alte folgen; Menschen, die ihr Ende sowieso schon nahen sehen und dies selbstbestimmt erleben möchten: Und zwar in diesem verstrahlten, von der Außenwelt ziemlich abgschnittenen Dorf, in dem die Toten nie so richtig verschwinden. Mir hat es sehr gefallen, vom Leben im Dorf und vor allem von der Gemeinschaft zu hören. Die Charaktere sind alle auf ihre Art sonderbar, wenn nicht kauzig, aber interessant; durch den Filter von Baba Dunja erhalten sie eine zusätzliche, oft amüsante Note. Als eines Tages Neulinge im Dorf auftauchen, wird das empfindliche Gleichgewicht der Gruppe gestört, was eine Kettenbewegung in Gang setzt, die die Dramatik der Geschichte voran treibt.
Die Story lebt von ihre skurrilen Personen, deren Gedanken und Handlungen, doch der ernste Untergrund der verstrahlten Umgebung, die das Setting bestimmt, wabert stets im Hintergrund, so wie Strahlung selbst, der man nicht entfliehen kann: Auch wenn man sie nicht sieht - sie ist immer da. Es sind Kleinigkeiten, die immer wieder daran erinnern: Warum die Dörfler sich nicht von ihren Enkelkindern besuchen lassen, warum einige der Jüngeren "seitdem" nie Kinder haben wollten - die Leute sind sich ihrem Risiko mit jeder Sekunde bewusst, sie lassen nur nicht zu, dass es ihr Leben bestimmt.
Kurzum: Gut erzählt, wieder einmal exzellent von Sophie Rois eingelesen, plus ein paar sehr emotionale Momente im letzten Drittel - das Hörbuch hat mir sehr gut gefallen.
Ein kleiner Hinweis noch zum Vergleich - ich hatte vor einiger Zeit im Rahmen einer Leserunde ein anderes Buch von Bronsky, Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche, gelesen. Dort hatte vor allem die unangenehme Hauptfigur für Unmut bei einigen Mitlesenden gesorgt. Bei Baba Dunja verhält sich das anders - zwar ist sie auch eine alte Frau ("keine 82 mehr!") und hat zu fast allem eine Meinung, allerdings ist sie grundsätzlich ein guter, herzlicher Mensch, ganz im Gegensatz zur manipulativen Tartarin Rosa. Also, solltet ihr der Autorin noch eine zweite Chance geben wollen, wäre dies Buch eine gute Wahl :)