Grandiose Jugendliteratur!
Bereits das Autorenduo bildet ein ungewöhnliches und vielversprechendes Gespann - ein ukrainischer Schriftsteller und eine 15-jährige Schülerin, die beide unter Pseudonym schreiben und die eine Fluchterfahrung ...
Bereits das Autorenduo bildet ein ungewöhnliches und vielversprechendes Gespann - ein ukrainischer Schriftsteller und eine 15-jährige Schülerin, die beide unter Pseudonym schreiben und die eine Fluchterfahrung eint.
Die 14-jährige Marzia muss eines Tages Hals über Kopf mit ihren Eltern, Großeltern und der jüngeren Schwester ihr Zuhause verlassen und fliehen, da ihre Stadt unter Raketenbeschuss gerät. Zu sechst sitzen sie nun zwischen eilig zusammengepackten Taschen im Auto, am Steuer der Opa, der als einziger einen Führerschein hat, und versuchen zur Grenze zu gelangen. Nach mehreren Tagen erreichen sie ein Motel in Grenznähe. Dort lernt Marzia den Schriftsteller Andrej kennen und übergibt ihm am Tag ihrer Abfahrt einen Umschlag mit ihren Tagebuchaufzeichnungen über die Flucht, mit der Bitte, diese erst zu lesen, wenn sie sich binnen einer Woche nicht bei ihm gemeldet hat. Die Woche vergeht, Marzia meldet sich nicht, und Andrej öffnet dem Umschlag…
Marzias Heimatland wird nie explizit erwähnt, doch es ist offensichtlich, dass es sich hier um die Ukraine handelt. Ein Hinweis ist auch der plötzliche Raketenbeschuss im Februar, der Monat, in dem 2022 der Angriff auf die Ukraine stattfand. Im Buch wird als Ortsangabe lediglich mehrfach der Ruppigon erwähnt, der unter Beschuss steht und überquert werden muss. Da ich das Wort nirgends finden konnte, nehme ich an, dass dieses fiktiv ist und hiermit eine Grenzregion gemeint ist. Die phonetische Nähe zum antiken „Rubikon“ ist sicher kein Zufall.
Marzia hält in ihren Aufzeichnungen ihre Eindrücke, Erlebnisse und Gedanken während der Flucht im Auto fest. Schnelle Gedankensprünge, kuriose Beobachtungen und Diskussionen im Auto zwischen den Familienmitgliedern wechseln sich hierbei ab. Die Bedrohung durch Beschuss, Bomben, die Willkür von Kontrollposten, die prekären Verhältnisse in den Nachtlagern werden wie beiläufig erzählt, neben scheinbar alltäglichem Geplänkel im Auto und skurrilen Begegnungen am Straßenrand während der Stauphasen. Gerade diese Gegensätze - der lebensbedrohliche Ausnahmezustand und die normale Familiendynamik, wie sie auf jeder Urlaubsfahrt auftreten könnte (die um Zugluft besorgte Oma, der schwerhörige Opa mit dürftigem Orientierungssinn, Diskussionen über die Route, Kabbeleien unter Geschwistern), haben mich beim Lesen nicht mehr losgelassen. Das ist einfach grandios umgesetzt. Hinzu kommt Marzias unvergleichlicher Ton: eine eloquente Jugendliche, intelligent beobachtend, mit staubtrockenem Humor. Allein die Szene mit der Hochzeitsgesellschaft am Seitenstreifen ist großartig beschrieben: Unglaublich komisch und zugleich so traurig, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.
Während der Autofahrt und ihren Gesprächen mit Andrej im Motel spürt man anhand Marzias Gedanken den Ernst der Lage: Was bleibt von einem Menschen nach seinem Tod? Welche Spuren hinterlässt er bei seinem Mitmenschen und was verschwindet im Vergessen? Und ihre Überlegungen zum (im russischen Sprachraum) bekannten Märchen „Ludwig der Vierzehnte und Tutta Karlsson“ von Jan Ekholm bilden eine scharfsinnige Parabel auf den Ukrainekonflikt.
Eine kleine Anmerkung zum Titel: Der Originaltitel lautet "Sidi i smotri", also etwa "Sitz und sieh", und ist damit eine geniale Reminiszenz an Elem Klimows Antikiregsfilm "Idi i smotri" ("Geh und sieh" bzw. in Westdeutschland "Komm und sieh", 1985). Offenbar ist der Film heute nicht mehr bekannt genug, um das Wortspiel im Deutschen zu übernehmen.
Mich hat dieses Buch nachhaltig berührt und beeindruckt. Es ist stilistisch außergewöhnlich umgesetzt und bietet viele Möglichkeiten zur Interpretation und Diskussion. Ich könnte mir den Roman auch hervorragend als Klassenlektüre ab der 9. Jahrgangsstufe vorstellen. Unbedingt lesen!