Emotionaler Roman mit unglaublich starkem Schreibstil
Luise weiß nicht, wie sie ohne ihren Bruder weiter leben soll. Denn Kristopher ist tot. Der große Bruder, den sie über alles geliebt hat, hat sich umgebracht.
So tun als wäre nichts gewesen kann sie nicht, ...
Luise weiß nicht, wie sie ohne ihren Bruder weiter leben soll. Denn Kristopher ist tot. Der große Bruder, den sie über alles geliebt hat, hat sich umgebracht.
So tun als wäre nichts gewesen kann sie nicht, aber in der Therapie redet sie nicht – und dann trifft sie Jacob. Mit ihm ist weitermachen irgendwie einfacher. Vor allem als Kristophers erste E-Mail an Luise in ihrem Postfach landet und ihr langsam klar wird, dass ihr Bruder niemals zurückkommt.
Meine Meinung
Nach Anne Freytags Jugendbuch-Debüt „Mein bester letzter Sommer“, war für mich klar, dass ich „Nicht weg und nicht da“ einfach lesen musste. Ich war von ihrem Debüt so begeistert, dass ich mich unglaublich auf „Nicht weg und nicht da“ gefreut habe – und zwar so sehr, dass ich sogar das Hardcover in Kauf nahm
Das Cover ist ganz im Stil der bisherigen erschienenen Bücher von Freytag, schön und stark zugleich. Hier hat sich jemand wirklich Mühe gegeben, es ist einzigartig und liebevoll gestaltet, regelrecht auf „Nicht weg und nicht da“ zugeschnitten.
Auch wenn es meinen Geschmack nicht zu einhundert Prozent trifft, so passt es doch zur gesamten Story und dafür ist es einfach ideal.
Ich wusste bereits nach „Mein bester letzter Sommer“, dass Freytag vor ernsten Themen nicht zurückschreckt und so war es auch hier. Ein Suizid? Und das aus der Sicht eines Angehörigen, noch dazu der über alles geliebten Schwester? Und mittendrin eine Liebesgeschichte? Da ist Scheitern quasi vorprogrammiert.
Es sei denn man hat Anne Freytag als Autorin.
In dem Roman geht es nicht um Kristophers Suizid und auch nicht um die Dämonen in seinem Kopf. Es geht um Luise und um ihre Art mit dem Geschehenen irgendwie umzugehen. Es geht um ihre Gedanken und Gefühle, es geht um den Tod, aber hauptsächlich um das Leben. Denn das Leben geht weiter, aber die Lücke, die eine geliebte Person hinterlässt, die bleibt.
Das Konzept mit den E-Mails, die Luise von Kristopher nach und nach bekommt, war nichts, was ich schon einmal gelesen habe. Freytag hat sich etwas Neues, Originelles ausgedacht, das gleichzeitig so persönlich und liebevoll ist, dass Kristopher von Zeile zu Zeile mehr Form und Dimensionalität bekommt und dabei lebendig wirkt.
Und auch wenn es hier sich um eine „Liebesgeschichte“ handelt, so werden zwei unterschiedliche Arten von Liebe aufgegriffen: Auf der einen Seite die Geschwisterliebe. Denn Kristopher hat Luise geliebt und so unglaublich traurig das ist, es ist gleichzeitig wunderschön, denn man sieht diese Liebe in jedem Wort, das er in seinen E-Mails an sie richtet. Er wollte, dass sie glücklich ist und diese tiefe Verbundenheit und Liebe hat mich enorm berührt.
Auf der anderen Seite (man hält es für unmöglich) steht die zarte Liebe, die Luise langsam für Jacob entwickelt. Sie wirkt keineswegs überzogen oder unrealistisch, ganz im Gegenteil. Freytag schafft das perfekte Tempo: Luise trauert. Und doch, irgendwie fühlt sie sich mit Jacob verbunden, wie Zuhause. Die Liebe zu ihrem Bruder rivalisiert nicht den zarten Keim, den sie für Jacob empfindet. Ihre Beziehung zu Jacob verdrängt nicht die Trauer und die Hilflosigkeit, die Luise fühlt und Kristopher wird nicht einfach zur Seite geschoben und abgehakt. Die Autorin trifft die perfekte Tiefe, indem sich Luise mit Kristophers Tod auseinandersetzt, versucht, ihn zu verstehen und unweigerlich mit Fragen konfrontiert wird, die sie sich selbst stellt. Darf sie glücklich sein? Darf sie wütend sein? Freytag schafft es auf grandiose Art und Weise realistisch zu bleiben, sodass sich alle Stränge der Geschichte miteinander verweben, ohne zu verknoten.
„Nicht weg und nicht da“ hat mich regelrecht gefesselt, ich konnte das Buch nicht aus der Hand legen, sondern wollte wissen, wie es mit Luise weitergeht. Es gibt keine unvorhersehbaren Plot twists, keine unnötig dramatisierten Handlungsstränge und dennoch schafft es die Autorin eine Spannung aufrechtzuerhalten, die den Leser mitzieht. Am Einfachsten beschreibt man es vielleicht so: Freytag schreibt Leben. Leben mit all seinen Facetten.
Der Roman ist abwechselnd aus Luises und Jacobs Sicht geschrieben. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, Luise wirklich sehen zu können. Sie ermöglicht es dem Leser in ihre Gefühle zu blicken, auch wenn sie sie selbst nicht versteht. Die Protagonistin ist vielseitig in ihrem Denken und authentisch in ihren Gefühlen und Handlungen. Ich habe mich wirklich für sie interessiert, wollte wissen, wie sie sich weiterentwickelt, was mit der Beziehung zu ihrer Mutter passiert, wie nah sie Jacob kommt, wie sie Kristophers Tod verarbeitet. Ich habe mit ihr gelitten und gelacht, gezittert und mich gefragt, wann wohl die nächste E-Mail kommt. Obwohl sie sehr jung ist, gerade einmal 16 Jahre alt, wirkt sie sehr erwachsen. Sie ist ein starker Charakter, der Schwächen hat und Fehler macht und alles in allem menschlich und echt ist.
Jacob war da schon undurchsichtiger. Ich habe seine Sicht gelesen und hatte trotzdem das Gefühl, dass er etwas vor mir verbirgt. Er gibt wenig über sich preis – das ist mir vor allem aufgefallen, als ich das Buch zum zweiten Mal gelesen habe (= Rereading). Luise erzählt ihm nach und nach immer mehr über sich, während er lange Zeit undurchsichtig bleibt.
Das macht ihn jedoch nicht weniger interessant. Er ist verschwiegen, aber tiefgründig und sagt auch viel, ohne dabei reden zu müssen. Ich hätte gerne noch mehr von ihm erfahren, aber ich kann verstehen, warum die Autorin sich dagegen entschieden hat. Jacob ist nun mal, wie er ist.
Wie ihn habe ich auch die Nebencharaktere ins Herz geschlossen: Da wären Aaron und Julia und vor allem Kristopher. Jeder von ihnen ist einzigartig und wirkt dreidimensional und authentisch.
Und dann gibt es da noch den Schreibstil der Autorin. Lasst es mich so sagen: Bereits nach den ersten zehn Seiten kullerte die erste Träne. Die Worte sind unglaublich stark und Freytag schafft es, genau die richtigen auszuwählen. Sätze und Dialoge treffen teilweise richtig ins Herz, ab und zu ist mir die Luft weggeblieben und ich habe kurz gestockt, weil sie so perfekt gepasst haben. Teils provokativ, teils einfach nur so voller Gefühl, dass ich es kaum ausgehalten habe. Selten habe ich ein Buch von einem Autor gelesen, der so genau wusste, was seine Protagonisten zu sagen haben.
Fazit
„Nicht weg und nicht da“ hat mich mehrmals zum Weinen gebracht. Anne Freytag ist ein gefühlvolles und vor allem starkes Buch gelungen, das nicht nur für Jugendliche geeignet ist, sondern alle seine Leser so schnell nicht mehr loslässt. Ich hatte so viele Gefühle beim Lesen, habe jede Seite verschlungen und mich in die Charaktere verliebt.
Nur dass Luise nicht hartnäckiger etwas über Jacob herausfinden wollte, hat mich hauptsächlich beim Rereading etwas gestört. Einen klitzekleinen Abzug gibt es hier, aber dieser schwächt den überaus positiven Gesamteindruck nicht wirklich.
Achtung, Trigger Warning, aber ansonsten eine glasklare Leseempfehlung!