„...In diesem Haus interessierte meine Meinung nicht. Ich wurde geduldet. Das allein war für meine Mutter Grund genug, mir immer wieder aufs Neue zu zeigen, wie dankbar ich ihr sein konnte. Schließlich bekam ich Verpflegung und einen Schlafplatz...“
Die jetzt 16jährige Ella ging in die dritte Klasse, als sich ihre Eltern scheiden ließen. Der Vater ist als Reisejournalist die meiste Zeit unterwegs. Deshalb erhielt ihre Mutter, eine Anwältin, das alleinige Sorgerecht. Ella hatte zu funktionieren. Liebe und Zuneigung waren dabei nicht inbegriffen.
Wieder ist die Zeit der Sommerferien. Ella fliegt nach Amerika, um dort einige Tage mit ihrem Vater zu verbringen. Keiner ahnt, dass Ella einen ganz anderen Plan hat. Aus den Erzählungen ihres Vaters ist ihr in Erinnerung geblieben, dass er Tofino in Kanada als Ort der Freiheit beschrieben hat.
Deshalb verlässt Ella ihren Vater, um nach Kanada zu gelangen.
Die Autorin hat ein abwechslungsreiches Jugendbuch geschrieben. Die Geschichte lässt sich gut lesen. Ella erzählt ihre Erlebnisse selbst. Der Schriftstil passt sich den Gegebenheiten an. Mal ist er sachlich, an anderen Stellen romantisch.
Schon die Reise über die Grenze wird für Ella zum Abenteuer. Da sie minderjährig ist, darf sie nicht allein reisen. Ein Schreiben der Eltern, das sie für die Einreise in die USA brauchte, hilft nur wenig. Doch sie hat den nötigen Einfallsreichtum und die Energie, um ihr Ziel zu erreichen.
In Tofino erhält Ella Unterkunft und einen Job bei Maja in der Bäckerei. Sie lernt Ben kennen und geht mit ihm auf einem Trail. Aussagekräftige Beschreibungen und passender Metapher lassen mich als Leser gedanklich an der Wanderung teilnehmen und die Schönheiten der Gegend erkennen. Schon als Ella von Tofino aus durch den Wald zum Strand geht, ist sie beeindruckt::
„...Kaum hatte ich den Wald betreten, waren alle anderen Geräusche ausgeblendet, als befände ich mich in einem riesigen Gewächshaus. Vögel zwitscherten und Blätter rauschten, ansonsten herrschte absolute Stille...“
Den eigentlichen Trail, der von Ella und Ben alles verlangt, kommentiert Ella so:
„...Die Natur war rau und der Trail hart, aber im Grunde war es traumhaft...“
Zwischen beiden entwickeln sich tiefgründige Gespräche über Gott und die Welt. Nicht immer sind sie einer Meinung. In den wenigen ruhigen Minuten widmet sich Ella ihrem Hobby. Sie schreibt ihre Gedanken auf. Außerdem träumt sie von einem eigenen Buch. Den Inhalt hat sie gedanklich fertig, weigert sich aber, ihn Ben zu erzählen. Die Begründung kann ich nachvollziehen.
Einige Texte und Gedichte von Ella sind im Buch enthalten. Sie kommt schnell auf den Punkt, sieht das Wesentliche und kann sich gut ausdrücken.
In Tofino fühlt sich Ella frei und geborgen. Doch nicht jeder ist von ihrer Anwesenheit begeistert. Eifersucht spielt dabei eine wesentliche Rolle. Sie muss sich entscheiden, denn sie weiß, dass sich auch Maja strafbar macht, wenn sie sie länger beherbergt.
Zu den sprachlichen und inhaltlichen Höhepunkten gehört für mich die Begegnung von Ella mit Nellys Großvater, einem alten Indianer. Ella ahnt, dass er sie durchschaut. Er verabschiedet sie mit den folgenden Worten:
„...Freiheit beginnt im Kopf. Du musst dir nur überlegen, wo dein Herz zu Hause ist...“
Das Buch hat mir sehr gut gefallen. Ellas Entwicklung wird realistisch wiedergegeben. Ihr Freiheitsdrang, aber auch ihre Verletzlichkeit bestimmen ihr Handeln. Es dauert, bis sie sich öffnet.