Ein stilles und poetisches Buch, das Denkanstöße gibt und den Horizont erweitert.
Eine Kreuzfahrt fast nach Alaska, Alltag auf dem Schiff und Eindrücke von den Tagesausflügen.
Die Ich-Erzählerin, eine Mittvierzigerin und Fotografin aus Berlin, begibt sich auf den Weg nach Alaska.
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Eine Kreuzfahrt fast nach Alaska, Alltag auf dem Schiff und Eindrücke von den Tagesausflügen.
Die Ich-Erzählerin, eine Mittvierzigerin und Fotografin aus Berlin, begibt sich auf den Weg nach Alaska.
Sie soll für einen Verlag Bilder von der Arktis machen und darauf die dortige Atmosphäre einfangen.
Sie sitzt zunächst im Flugzeug über den Gletschern Grönlands und denkt an ihre Verluste, die sie in ihrem bisherigen Leben verkraften musste.
Nach der Landung in „Nasser Sack“, einem kleinen Ort an der Südspitze Grönlands, geht sie über die Gangway an Bord des Passagierschiffes MS Svalbard, das sie und die anderen Kreuzfahrtteilnehmer in zweieinhalb Wochen nach Alaska bringen soll.
Sie beobachtet die anderen Passagiere und lernt den ein oder anderen, darunter auch nervtötenden, Gesprächspartner kennen.
„Sie drücken einen mit ihren luftdichten Wörtern und nahtlos aneinandergefügten Sätzen förmlich zu Boden, man kam nicht hoch, man konnte sich nicht rühren, keine Chance. Kein aber, kein ach, man hätte husten, röcheln, an Atemnot verenden können, sie hätten zumindest den Satz noch zu Ende geredet und einen dann vorwurfsvoll angesehen.“ (S. 52)
Der ca. 70-jährige akkurate Herr Mücke war vor seiner Pensionierung Uhrmacher und Lehrer und ist seit dem Tod seiner Frau fast ständig auf Reisen.
Lewis hat Krebs und wird bald sterben.
George hatte schon drei Schlaganfälle und seine Frau Agnes legt Wert auf Butterkuchen um vier. Die Kreuzfahrt bekamen sie von ihren Kindern zum Hochzeitstag geschenkt.
Kinder seien wirklich alles, betont George... und da war es wieder: das Kinderthema.
Die Ich-Erzählerin wünscht sich, dass der eiskalte Wind an Deck ihren Schmerz und die quälenden Erinnerungen davonbläst.
Schon bald steht der erste von vielen Landausflügen an.
Mit einem Tenderboot geht’s, begleitet von Expeditionsleitern, zu mehr oder weniger bekannten, geschichtsträchtigen oder verlassenen, kargen, freundlichen oder unwirtlichen Orten.
Zwischendurch geht’s mit dem Schiff immer weiter Richtung Alaska.
Wir lernen weitere Kreuzfahrttouristen kennen, erleben Ausschnitte von Vorträgen über die Arktis oder die Inuit mit und lauschen Gesprächen zwischen Expeditionsteilnehmern.
Wir haben Teil an den Gedanken und Beobachtungen der Ich-Erzählerin, entdecken Krabbentaucher, Schneegänse und Eissturmvögel und nähern uns so der Arktis.
Es gibt auch viel Interessantes zu erfahren, wie zum Beispiel: „Perlerorneq - so nennen die Inuit die Winterdepression. Das Wort bedeutet: vom Gewicht des Lebens erdrückt werden.“ (S. 77)
Und immer wieder begleiten wir die Ich-Erzählerin auf Exkursionen.
Mit dem Boot vom Schiff aus durchs Meer zu beeindruckenden archaischen Orten wie Dundas Harbour oder Beechey Island, die ich natürlich googeln „musste“, weil Arezu Weitholz mich so neugierig gemacht hat.
Und dann wurde das Eis zu dick, um weiter zu fahren…
Arezu Weiholz formuliert in „Beinahe Alaska“ äußerst interessante Gedanken.
Sie hinterfragt z. B. gängige Bezeichnungen: „Wieso überhaupt alleinstehend? Wieso nicht alleingehend oder alleinliegend oder alleinlaufend? Als stünde man die ganze Zeit herum, so alleine. Zu einem Paar würde ja auch keiner sagen: „Ach, Sie sind wohl zusammenstehend.“...“ (S. 16)
Immer wieder stößt man auf wunderschöne, bildhafte und poetische Formulierungen:
„Leise zog das Schiff durch den Fjord, wie ein Messer durch weiche Butter.“ (S.18)
„Da war ein Glitzern und Funkeln, das die Sonne auf das Blau warf, Abertausend Diamanten, die das Meer in einen gigantischen Lurexteppich verwandelten.“ (S. 30)
„An Deck klatschte mir eiskalter Wind wie ein feuchter Lappen ins Gesicht.“ (S. 38)
Mir gefiel die eindrückliche Sprache der Autorin und ich staunte immer wieder über die schönen Bilder:
„Es war unmöglich, über ein Manuskript zu reden. Wenn man darüber sprach, fiel es in sich zusammen wie ein Soufflé, das man zu früh aus dem Ofen genommen hatte. Ideen waren besonders zarte und zerbrechliche Geschöpfe.“ (S. 59)
„Beinahe Alaska“ ist ein nur 186-seitiges ruhiges und tiefgründiges Werk, das weder mit Ernsthaftigkeit noch mit leisem Humor geizt und zum Mit- und Nachdenken anregt.
Arezu Weitholz ist eine präzise Beobachterin und talentierte Erzählerin.
Aufgrund der detaillierten und eindrücklichen Naturbeschreibungen sieht man die Landschaft vor sich und spürt die Kälte.
Das leuchtende Weiß, die gefleckten und marmorierten Felswände, beeindruckende Wasserfälle, grellgrün leuchtendes Moos, Eisberge mit türkisen Streifen...
Darüber hinaus war „Beinahe Alaska“ für mich eine lehrreiche Lektüre, denn ich konnte es nicht lassen, immer wieder parallel dazu zu googeln.
Ich empfehle diese „Reisebeschreibung“, in der es nicht in erster Linie um das Außen, sondern um das Innen geht, sehr gerne weiter.
Es macht Freude, den Gedanken der Ich-Erzählerin zu dem, was sie auf der Expeditionskreuzfahrt sieht und erlebt, zu lauschen.