Eine abwechslungsreiche Holmes-Anthologie
„Elementar, mein lieber Watson“ ist eine Anthologie, in der sechs Kurzgeschichten versammelt sind, deren Protagonisten Sherlock Holmes und Dr. John H. Watson, das vermutlich bekannteste Ermittlerduo der ...
„Elementar, mein lieber Watson“ ist eine Anthologie, in der sechs Kurzgeschichten versammelt sind, deren Protagonisten Sherlock Holmes und Dr. John H. Watson, das vermutlich bekannteste Ermittlerduo der Kriminalromangeschichte, sind. Es handelt sich nicht um von Arthur Conan Doyle verfasste Geschichten, sondern um „neue“ Fälle, die aus der Feder gegenwärtiger Autor*innen stammen.
Den Beginn der Anthologie macht die Kurzgeschichte „Die drei Königinnen“ von Anthony Horowitz. Horowitz schrieb bereits zwei Sherlock Holmes-Romane, „Das Geheimnis des weißen Bandes“ sowie „Moriarty“ (beide übrigens sehr lesenswert!), die beide offiziell von der Conan Doyle Estate lizensiert worden sind. Diese Lizensierung spiegelt sich auch in „Die drei Königinnen“ wider: Horowitz schafft es perfekt, den Geist von Arthur Conan Doyle aufzugreifen – inhaltlich wie sprachlich. So ist „Die drei Königinnen“ ein schöner Kurzkrimi, der archaisierend (und dadurch authentisch) erzählt wird und mit Holmes-typischen Deduktionen sowie einer überraschenden Wendung auftrumpft.
Die zweite Kurzgeschichte, „Der Fall des Doktors“ von Stephen King, wird ebenfalls durchströmt von Arthur Conan Doyles Geist. Auch hier finden sich sprachliche sowie inhaltliche Anlehnungen an das Original. Interessant an dem Fall ist vor allem zweierlei: Einerseits wird er nicht von Holmes, sondern von Watson gelöst, andererseits ist – spoilerfrei formuliert – die „technische“ Seite des Falls spannend. „Der Fall des Doktors“ wird allerdings recht langsam erzählt: Er besitzt eine vergleichsweise lange Vorlaufphase, wodurch Spannung verloren geht. Die eigentliche Lösung des Falls erfolgt im Kontrast dazu aber recht schnell, sodass die Struktur des Handlungsgerüsts auf mich inkongruent wirkte. Daher hat mir Kings Erzählung – auch wenn sie sonst nah an die Originale heranreicht – nicht so gut gefallen, wie diejenige von Horowitz.
An der dritten Erzählung, „Verkleidung schadet nicht“ von Alan Bradley, hat mir besonders die Erzählperspektive gefallen: Nicht Watson ist der Ich-Erzähler, sondern eine andere Person, deren wahre Identität (zunächst) versteckt wird. Dieser Ich-Erzähler sieht sich mit einer Situation konfrontiert, die er nicht greifen kann, weshalb er – und qua Perspektivierung die Lesenden mit ihm – in Deduktionen verfällt. Mehr möchte ich zu dieser Geschichte auch gar nicht sagen, da ein näheres Eingehen schon zu viel spoilern würde.
Die vierte Geschichte ist „Die Mitternachtsglocke“ von Anne Perrey. Der Fall, der hier thematisiert wird, ist eher einfach strukturiert; seine Auflösung daher tendenziell vorhersehbarer als bei den vorangegangenen Fällen. Die Erzählung besticht daher nicht so sehr durch ihre Komplexität. Sehr schön ist allerdings die Atmosphäre, die in „Die Mitternachtsglocke“ erzeugt wird: Die Geschichte spielt an Weihnachten auf einem abgeschiedenen, aber festlich geschmückten Landsitz, der heimelig gezeichnet wird.
Die fünfte Geschichte, „Das Geheimnis von Compton Lodge“ von Peter Jackob, ist der umfangreichste der in der Anthologie versammelten Fälle (er besitzt die Länge eines Kurzromans). Inhaltliche Ausgangslage des Kurzromans ist eine Erkrankung Watsons: Im Fieberwahn redete Watson von der mysteriösen Compton Lodge, an die er sich aber – nachdem er sich auskuriert hatte – bei klarem Verstand nicht erinnern kann. Holmes hat sich nun zum Ziel gesetzt, dieses Rätsel der Compton Lodge zu klären. So spannend ich diese Ausgangslage fand, so mäßig war für mich die Umsetzung des Falls: Einzelne Bestandteile der Handlung wurden eher unmotiviert aneinandergereiht und konnten dadurch ihre eigentlich intendierte Wirkung nicht völlig entfalten. Insgesamt blieb die Handlung für mich dadurch permanent ein Stück weit verwirrend. Auch waren Watson und Holmes mir persönlich etwas zu schnippisch und insgesamt in ihrem Verhalten zu „modern“, sodass ich in ihnen nicht den Holmes und den Watson von Arthur Conan Doyle wiedererkennen konnte.
Den Abschluss des Bandes bildet „Sherlock Holmes und der Arpaganthropos“ von Klaus-Peter Walter. In Bezug auf den Handlungsort findet hier ein Wechsel statt: Die Geschichte spielt nicht in England, sondern auf der griechischen Insel Kerkyra. In dieser Geschichte spielt zudem die griechische Mythologie eine große Rolle, wodurch innerhalb der Handlung deutliche Elemente des Phantastischen zu finden sind. Diese phantastischen Aspekte habe mich etwas befremdet: Sherlock Holmes ist für mich durch seine Logik eng mit einer Erzählwelt verknüpft, die (mehr oder weniger) nach den Regeln unserer Realität funktioniert; Phantastik und Sherlock Holmes sind für mich daher Gegensätze (aber das ist nur meine subjektive Meinung; ich kann mir auch vorstellen, dass andere Lesende die Wende ins Phantastische mögen werden, weil es eine alternative und überraschende Herangehensweise an Sherlock Holmes ist). Ansonsten handelt es sich bei „Sherlock Holmes und der Arpaganthropos“ um eine flüssig zu lesende, gut durchdachte Erzählung mit einem interessanten Twist.
Insgesamt, so lässt sich zusammenfassen, sind die Sherlock Holmes-Geschichten in „Elementar, mein lieber Watson“ sehr abwechslungsreich und verschieden. Mal orientieren sie sich eher am Original, mal sind sie freier. Für alle gilt aber: Es handelt sich um kreative Sherlock Holmes-Fälle, die man so noch nicht gelesen hat.