Bei „historisch“ geht bei mir irgendwie immer eine Klappe herunter. Warum? Ich glaube, weil ich in Geschichte immer eine Niete war. Geschichten haben mich hingegen immer fasziniert, und genau das macht der Ich-Erzähler (oder natürlich vielmehr der Autor) in „Alchimie einer Mordnacht“ ganz fantastisch: eine Geschichte erzählen. Und wenn mich wohlgesetzte Worte und Sätze einer Leseprobe überzeugen, überwinde ich mein „Historisch“-Trauma und gebe Romanen wie diesen gerne eine Chance. Zumal der Autor in einer Nachbemerkung formuliert: „Ich überlasse es dem Leser, die historischen Charaktere von den erfunden zu trennen.“ Auch, dass auf dem Cover zwei alternative Namen des Autors - John Banville alias Benjamin Black - angegeben sind, gefällt mir irgendwie, weil es exzentrisch wirkt. Exzentrisch soll auch Kaiser Rudolf II gewesen sein. Ein besonderer Zeitgenosse ist ohne Zweifel der Protagonist: „»Stern!«, brüllte ich. »Christian Stern!« Ich sollte vielleicht zugeben, dass ich damals eine hohe Meinung von meinem Namen hatte, denn ich sah ihn schon auf den Rücken einer ganzen reihe gelehrter Bände prangen, die ich zweifellos eines Tages verfassen würde.“
Christian Stern hält nicht nur viel von sich und seinen Fähigkeiten (hat aber in der Erzählung auch häufig einen angenehm selbstironischen Abstand zu sich selbst), sondern ist auch unehelicher Sohn des Bischofs von Regensburg. Im Winter 1599 reist er nach Prag, um sich einen Platz unter den Gelehrten des Kaisers sichern. Statt seines Glücks findet der junge Gelehrte dort aber zunächst die Leiche einer jungen Frau, die offenkundig aus gutem Hause stammt. Stern wird verhaftet, erwirbt dann aber die Gunst des Kaisers höchstpersönlich. Rudolf beauftragt den Stern, herauszufinden, wer die junge Frau auf dem Gewissen hat. Der Ermittler wider Willen erfährt bald mehr, als ihm lieb ist, denn Rudolfs Hofstaat ist eine Ränkeschmiede sondergleichen - und Stern steckt plötzlich mittendrin…
Ob Jeppe Schenckel, der bösartige Zwerg, Caterina Sardo, die durchtriebene Geliebte des Kaisers, der auch Stern verfällt, die kaiserlichen Berater Felix Wenzel und Philipp, der gestörte Don Giulio oder der paranoide und unberechenbare Kaiser - die Figuren, die der Autor zeichnet, sind alle auf ihre Weise skurril, verfolgen ihre ganz eigenen Ziele und stehen in krassem Gegensatz zu dem anfangs fast schon arglos wirkenden Stern. Ich konnte mir jede einzelne Figur bestens vorstellen, weil der Autor es vermag, mit seinen lebhaften, ausführlichen Beschreibungen Bilder in die Köpfe seiner Leser zu zaubern. Diese Fabulierkunst hat mich fasziniert, war mir dann und wann aber auch wieder zu viel des Guten, weil so die Handlung immer wieder ins Stocken kam.
Ein bisschen ist der Erzählstil mit einer weiteren Figur zu vergleichbar, nämlich mit dem Nuntius Girolamo Malaspina: „Der Bischof hatte sehr kurze Arme und sehr kurze Beine, und sein Bauch, eine enorme Rundung, war so dick, dass er jeden Moment umzukippen und hilflos auf dem Boden herumzurollen drohte (…). Der Nuntius stand einen Augenblick da, um diese Pracht zu begutachten, dann seufzte er tief und zufrieden und klopfte mit seinen kleinen Pranken froh auf die üppige Oberseite seines Bauches. „Ecco signore“, sagte er. „Jetzt lasst uns schlemmen!“ Der fröhliche Vielfraß ist aber nicht nur üppig, sondern auch scharfsinnig und nicht zu unterschätzen. Auch wenn ich gestehe, dass ich ein bisschen quergelesen habe, hat mir der Roman trotz seiner Opulenz gut gefallen - oder auch gerade deswegen.