Zwei Perspektiven, zwei Wahrheiten
Hey, ich habe heute wieder eine Rezension für euch. Nachdem ich folgendes Buch bereits Anfang des Jahres gelesen habe, wird es Zeit, es euch näher vorzustellen. Sicherlich werden es viele von euch auch ...
Hey, ich habe heute wieder eine Rezension für euch. Nachdem ich folgendes Buch bereits Anfang des Jahres gelesen habe, wird es Zeit, es euch näher vorzustellen. Sicherlich werden es viele von euch auch schon kennen. Und sei es nur oberflächlich von Instagram oder aus dem Buchladen. Ich habe mich mit einer Literaturbesprechung zu »Nichts, was uns passiert« von Bettina Wilpert sehr schwer getan. Das lag vorwiegend an dem sehr sensiblen Thema, an dem man sich als Autor schnell auch in die Nesseln setzen kann. Das Taschenbuch erschien im Oktober 2019 im btb-Verlag.
Fußball-Weltmeierschaft 2014 in Brasilien: Die Studenten Anna und Jonas lernen sich in Feierlaune und unter dem Einfluss von viel Alkohol in Leipzig kennen. Schnell kommen beide ins Gespräch und verbringen eine gemeinsame Nacht, ohne Aussicht auf eine weitere Verabredung. Kurz darauf aber treffen sie sich auf der Geburtstagsfeier eines gemeinsamen Kommilitonen wieder und landen im Bett. Am nächsten Morgen ist für Anna klar, dass sie vergewaltigt wurde. Viele Wochen später zeigt sie Jonas an. Als er mit dem Vorwurf konfrontiert wird, bricht eine Welt für ihn zusammen. Völlig schockiert über die komplett andere Wahrnehmung Annas beginnt für ihn ein Spießrutenlauf. Anna muss sich folglich als Falschbeschuldigerin und Jonas sich als Vergewaltiger verunglimpfen lassen. Was geschah wirklich?
Passend zur immer noch sehr aktuellen #MeToo-Debatte, schreibt Wilpert über eine widersprüchliche Beischlaf-Erinnerung zweier Mittdreißiger. Für Anna war es eine Vergewaltigung, für Jonas ein klassischer One-Night-Stand. Auf dokumentarische Weise erzählt Bettina Wilpert die Erinnerungen einer Nacht, die Jonas und Anna anschließend völlig unterschiedlich wahrgenommen haben. Dabei greift sie auf die Aussagen von Mitmenschen zurück, die beide Protagonisten gut zu kennen scheinen und die sich dem Druck einer Parteinahme ausgeliefert sehen. Wilpert urteilt nicht, sie beschreibt die Wahrnehmungen beider Charaktere auf glaubhafte und nachvollziehbare Weise. So schafft sie eine gesellschaftliche Tragödie, die einen Schuldigen sucht, aber keinen zu finden vermag.
Der Erzählstil ist zweifelsohne das Besondere an Wilperts Roman, denn, es gelingt ihr in jeder Zeile, ihre Leser unbeeinflusst zu fesseln und ihnen ein eigenes Urteilsvermögen zu erlauben. Die Erinnerungen von Anna und Jonas sind so verschieden und so in die Irre führend, dass es unmöglich scheint, sich auf eine Seite zu schlagen. Und genau das möchte die Autorin erreichen. Sie sensibilisiert für das Wesentliche: ein sexuelles Erlebnis mit einem Ausgang, der im Verborgenen bleibt. Mir gefielen sowohl die Idee der Geschichte, als auch die Figuren, der Schreibstil und die aus meiner Sicht herausragende Umsetzung all dieser Faktoren.
Bettina Wilpert ist ein spannendes, intelligentes und sehr nachdenklich machendes Debüt gelungen. Ein moralisches Trauerspiel, dass den Nerv der Zeit trifft.