Eindrücke einer Pilgerreise
„Mit dem Herzen gehen“ - diesen Ratschlag erhält die Autorin zum Abschied von einem Pater, als sie ihre erste Herberge verlässt, um von Leon aus auf dem Jakobsweg die letzten 300 Kilometer bis nach Santiago ...
„Mit dem Herzen gehen“ - diesen Ratschlag erhält die Autorin zum Abschied von einem Pater, als sie ihre erste Herberge verlässt, um von Leon aus auf dem Jakobsweg die letzten 300 Kilometer bis nach Santiago de Compostela, dem Ziel jeden Pilgers auf dem Camino de Santiago, in Angriff zu nehmen. Aber wie geht man mit dem Herzen, wenn die Füße schmerzen, und das bei jedem Schritt stärker? Wenn man, besser die Füße, gar nicht die Chance bekommt, sich an den langen und steinigen Weg zu gewöhnen, wie das zwangsläufig der Fall ist, wenn man nicht die gesamte Strecke von den Pyrenäen aus geht oder von viel weiter herkommt, wie einige Pilger, die die Autorin unterwegs trifft und die in ihren Heimatländern gestartet sind. Und wie schafft man es, den Ballast, den man mitgebracht hat, sichtbar oder unsichtbar, abzuwerfen, um das zu finden, was man sucht, wenn man denn weiß, was man sucht?
Unzählige Bücher sind über den Jakobsweg veröffentlicht worden; jährlich kommen neue hinzu, darunter immer mehr Erfahrungsberichte von Pilgern aus aller Welt. Inflationär geradezu! Was drängt einen Pilger, seine Tagebucheinträge mit wildfremden Menschen, den Lesern, die er sich sicherlich erhofft, zu teilen? Mehr oder minder minutiös, gar oft geradezu peinlich privat. Warum soll alle Welt teilhaben an den sehr persönlichen und individuell unterschiedlichen Erfahrungen, die sich dennoch, so paradox es klingen mag, stark ähneln, die man, hat man denn viele davon gelesen – wobei sich hier die Frage auftut, warum man das eigenlich tut – gar nicht mehr als individuell wahrnimmt, egal aus welch divergierenden Gründen jene schreibenden Pilger sich einst aufgemacht haben, den vom einstigen Geheimtipp zum touristischen 'Kassenschlager' gewordenen magischen uralten Pilgerweg zu begehen? Der Gedanke an einen gewissen Drang zur Selbstdarstellung liegt nicht fern!
Dass man aber nicht alle Pilgerwegsberichte und -erfahrungen über einen Kamm scheren kann, zeigt Birgit Kelles angenehm überschaubares Büchlein über ihre eigene, wenn auch für die orthodoxen Pilger des Jakobswegs und so vieler anderer Pilgerwege dieser Welt belächelte, kurze Etappe auf dem Camino de Santiago, das in sehr hübscher Aufmachung daherkommt! Ihre Tagebucheinträge – die meisten Pilger führen tatsächlich eine Art Tagebuch, in welcher Form auch immer! - gleichen Streiflichtern, sind keine detaillierten Berichte sondern kurze Zu- und Umstandsgedanken, wie ich sie mangels eines besseren Terminus bezeichnen möchte, die insgesamt mehr als nur eine bloße Ahnung von dem geben, was der historische Pilgerweg mit all seinen Begegnungen in ihr hervorgerufen, angestoßen, ja was er letztlich mit ihr gemacht hat. Und wie nachdrücklich ihre neuen Erkenntnisse oder Einsichten oder Weltsichten dann tatsächlich sind, wird erst die Zukunft zeigen, die Zeit nämlich, wenn man nach der Pilgerreise wieder im normalen Leben mit seinem Alltagstrott angekommen ist. Sofern man nicht, wie der eine oder andere Weggefährte der Autorin, ganz und gar beschließt, auf dem Weg zu bleiben, zu laufen wohin und vor allem wohl so lange ihn seine Füße tragen.
Birgit Kelle pilgerte alleine, schloss sich während der zwei Wochen in der Adventszeit des Jahres 2019 – welch eine ungewöhnliche Jahreszeit dachte ich zunächst, fand dies aber am Ende des Buches gar nicht mehr, im Gegenteil könnte ich mir selbst vorstellen, dass..., aber das gehört nicht hierher!- niemandem dauerhaft an. Freilich traf sie die Mitpilger – aus vielen verschiedenen Ländern, was gewiss auch den Reiz des Weges ausmacht – immer wieder, spätestens des Abends in den zu dieser Zeit des Jahres recht verwaisten Herbergen. Je nach Temperament, Typ und Gemütslage führte man dann Gespräche, lachte, aß und trank miteinander oder man schwieg, einträchtig oder weil man sich nichts zu sagen hatte oder sich nicht mitteilen wollte. Alles ist in Ordnung, nichts wird hinterfragt auf diesem magischen Weg, man nimmt den anderen genau so an, wie er ist. Warum kann man diese Erkenntnisse dann nicht oder nur selten mitnehmen in seinen Alltag? Oder vielleicht hat Birgit Kelle genau dies ja getan? Niemals hat einer der vielen, die über ihren persönlichen Jakobsweg geschrieben haben, das 'Danach' miteinfließen gelassen – doch gerade das wäre doch sehr interessant zu erfahren! Hat der Camino Spuren hinterlassen? Lebt man hinterher bewusster, menschlicher, duldsamer und toleranter?
Wie dem auch immer sei – Birgit Kelles Eindrücke sind lesenswert! Gerade weil sie vieles ungesagt lässt, nicht kommentiert, nicht verrät, überhaupt mit Offenbarungen vorsichtig ist, was ich durchaus als angenehm empfunden habe. Sie lässt den Leser ahnen, interpretieren vielleicht, teilnehmen auf jeden Fall - doch der Zugang zu ihrer Persönlichkeit bleibt, mir jedenfalls, verborgen. Aber womöglich ist das ja auch ihre Intention. Das ist dann, wie man auf dem Jakobsweg erfahren hat, auch völlig in Ordnung!