Leseerlebnis besonderer Art.
Bei „Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff handelt es sich um ein Stück gehobener Literatur. Das bedeutet u.a., dass die Bewertungskriterien hier andere sind, als diejenigen, die bei den reinen Unterhaltungsstücken ...
Bei „Widerfahrnis“ von Bodo Kirchhoff handelt es sich um ein Stück gehobener Literatur. Das bedeutet u.a., dass die Bewertungskriterien hier andere sind, als diejenigen, die bei den reinen Unterhaltungsstücken Anwendung finden.
Es gibt wenig Personal. Der äußere Plot spielt eine untergeordnete Rolle. Vielmehr beschäftigt sich die Novelle mit zwei Protagonisten: ihrem Innenleben, der Entwicklung der Beziehung zwischen Reither, Mitte sechzig, ehem. Kleinverleger, und Leonie Palm, paar Jahre jünger, ehem. Hutladenbesitzerin, die im idyllischen Tal am Alpenrand ihren Ruhestand verbringen.
Leoni kommt eines Sonntagsabends zu Reither, um ihn zur nächsten Sitzung des örtlichen Lesekreises einzuladen. Sie reden miteinander, rauchen, trinken Wein und verspüren plötzlich die Lust loszufahren, etwas Schönes zu sehen und Neues zu erleben. Erst wollen sie bloß zum Sonnenaufgang bis zum nächsten See, dann aber geht es einfach weiter bis nach Sizilien.
Drei Tage dauert die Reise. Vielmehr geht es aber um eine innere Reise, bei der die beiden Protagonisten auf ihr Leben zurückblicken und einander nach und nach besser kennenlernen. Einiges eint sie: Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Weder Reither noch Leoni Palm war vom Leben verwöhnt, sowohl beruflich als auch privat. Verluste säumen die Lebenswege der beiden und fordern Lebensmut und die Kunstfertigkeit, mit der gegebenen Lebenssituation umzugehen. Die beiden leben schon eine Weile allein, also müssen sie erneut lernen, sich auf eine andere Person einzulassen, zu vertrauen und die Grenzen ihrer jüngst entstandenen Beziehung auszuloten.
Spannend zu sehen, insb. zum Schluss, wie unterschiedlich die beiden dennoch sind. Auch in dieser neuen Situation bleibt Reither der Mensch, der er immer gewesen war und kann seine Grenzen nicht überschreiten. Er erntet das, was er verdient. Im Klappentext heißt es: „Kirchhoff erzählt … die Parabel von einem doppelten Sturz: in die Liebe, ohne ausreichend lieben zu können, und in das Mitmenschliche, ohne ausreichend gut zu sein. ‚Aber wo wären wir ohne etwas Selbstüberschätzung“, sagt der Protagonist Reither, um sich Mut zu machen für den nächsten Kuss mit Leonie Palm, ‚jeder wäre nur in seinem Gehäuse, ein Flüchtling vor dem Leben.‘“. Das passt sehr gut.
Das Thema Flüchtlinge ist in „Widerfahrnis“ auch gut präsent. Anfangs wird über die Flucht einer jungen Frau aus Eritrea erzählt. Zum Schluss spielen die Flüchtlinge eine noch größere Rolle und lassen die beiden Protagonisten ihre Schlüsse ziehen.
Die Novelle bietet auch einige Sätze, die jedes Zitatenheft schmücken können, z.B.
„…auch böse Erinnerungen haben ihren Sinn, sie schärfen den Blick für das Gute in der Gegenwart…“ liest man Kapitel 4.
„… als wäre er ein Idiot der Liebe, glaubte, je größer das eigene Verlangen sie, desto größer sei auch das Recht auf Erlösung, was es aber nicht.“ Kapitel 3.
„...Erinnerungen sind keine Abschnitte in Handbüchern, es sind auch nicht nur Einflüsterungen. Viel eher sind es Splitter, auf die man barfuß im Dunklen tritt, weil man vergessen hat, dass etwas zu Bruch gegangen ist…“ Kapitel 7.
Fazit: Leseerlebnis besonderer Art: zum Nachdenken anregend und bereichernd. Mit der Art der Stoffdarbietung muss man allerdings klarkommen, bzw. Durchhaltevermögen mitbringen. Schachtelsätze und ausschweifende Erklärungen sind nicht so meins. Daher vier Sterne und eine Leseempfehlung für diejenigen, die mal ein Stück anspruchsvoller Literatur kennenlernen möchten.