Wer Carlos Ruiz Zafóns „Der dunkle Wächter“ lesen will und zum Beispiel „Der Schatten des Windes“ von ihm kennt, sollte wissen, dass die „Nebeltrilogie“ („Der Fürst des Nebels“ von 1993, „Der Mitternachtspalast“ von 1994 und eben „Der dunkle Wächter“ von 1995, jeweils Erscheinungsdaten der spanischen Originale) prinzipiell als Jugendlektüre angelegt ist. Ich war mir dessen vor dem Erwerb des Buches nicht bewusst und erwähne es, da man das durchaus merkt – sprachlich ist das Buch mitreißend, allerdings geht es entsprechend etwas weniger ins Detail zum Beispiel bei der Charakterzeichnung.
Dieses Buch entzieht sich in vielerlei Hinsicht – eine Rezension ist schwierig, ebenso eine Inhaltsangabe oder gar eine Einordnung in ein Genre.
Vorweg: ich werde nie ein Anhänger von Fantasy oder Mystery werden, weder bei Büchern noch bei Filmen – allerdings entdecken mich, so herum muss man es wohl formulieren, immer wieder einige spezielle Werke: ich bin begeistert vom Film „Der Krieger des Kaisers“ von Ching Tsiu-Tung, von den Büchern „Das Geisterhaus“ von Isabel Allende oder „Der Scheiterhaufen“ von György Dragomán mit ihren mystisch-phantastischen Anteilen.
Der Kern der Handlung spielt im Jahre 1937, nach dem Tod des Vaters ziehen die fast fünfzehnjährige Irene und ihr jüngerer Bruder Dorian Sauvelle mit der Mutter von Paris an die Küste der Normandie, wo letztere durch Annahme eines guten dotierten Arbeitsplatzes als Hauswirtschafterin den finanziellen Ruin von der Familie abwenden kann. Der neue Arbeitgeber, Lazarus Jann, ist Herr des palastartigen Cravenmoore nebst ehemaliger Spielzeugfabrik. Haus und umgebender Wald werden bevölkert von allerlei magischen Schöpfungen des Hausherren, künstlichen Lebewesen, mechanischen Figuren mit sehr realitätsnahen Bewegungen. Während Irene sich in den wenig älteren Ismael verliebt, offenbart sich langsam eine finstere unheimliche Seite im ländlichen Idyll, die bald schon zu einer Toten führt und noch weitere Leben bedroht.
„Der dunkle Wächter“ trägt im Original den Namen „Las Luces de Septiembre“, also die Septemberlichter – so heißt auch nicht nur ein ganzes Kapitel im Buch, sondern diese Septemberlichter werden durchgängig thematisiert, sie sind von der Leuchtturminsel vor der Küste sichtbar seit dort eine geheimnisumwobene Frau ertrank.
Die Handlung des Buches erkläre ich am besten als eine Mischung von „Rebecca“ von Daphne du Maurier, „Charlie und die Schokoladenfabrik“ von Roald Dahl, „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde, „Dr. Jekyll und Mr Hyde von Robert Louis Stevenson, gar Faust und mindestens noch etlichen weiteren, ohne im Ansatz wie eine Kopie zu erscheinen, dabei bewegt es sich fast erbarmungslos zwischen Jugendbuch, Liebesroman, Coming-of-Age-Geschichte und phantastischem Schauerroman.
Jetzt könnte ich hier meine Genre-Vorbehalte bestätigt sehen, doch fesseln mich Ruiz Zafóns Stärke der bildhaften Sprache und sein verwendetes Motiv: er arbeitet mit dem Konzept eines Doppelgängers, eines Schattens, der sich von seinem Besitzer gelöst hat und sich gegen diesen wendet, beschreibt, was passiert, wenn man einen Pakt mit dem Bösen eingeht. Dadurch, dass die Kernhandlung des Buches eingerahmt wird mit zwei Briefen zehn Jahre später, also 1947, ausgetauscht zwischen Irene und Ismael, schafft der Autor es sogar, die angedeuteten Parallelen dieses fatalen Bündnisses zu den Schrecken des Krieges greifbar zu machen. Ja, es bleiben Elemente von Mystery, sogar deutliche – aber dank des Autors als lesbare Alternative.