Emotionales bewegendes Leseerleben, welches nachdenklich stimmt
Inti Flynn ist Biologin und Protagonistin sowie Ich-Erzählerin im Roman „Wo die Wölfe sind“, geschrieben von der Australierin Charlotte McConaghy. Sie leitet ein Projekt zur Wiederansiedlung von Wölfen ...
Inti Flynn ist Biologin und Protagonistin sowie Ich-Erzählerin im Roman „Wo die Wölfe sind“, geschrieben von der Australierin Charlotte McConaghy. Sie leitet ein Projekt zur Wiederansiedlung von Wölfen in Schottland, welches Teil einer Renaturierungsmaßnahme ist mit dem Ziel, den Klimawandel zu verlangsamen. Zu Beginn der Geschichte erzählt Inti beispielhaft eine Erinnerung, um den Lesenden zu verdeutlichen, dass sie unter Mirror-Touch-Synästesie leidet, einer neurologischen Störung bei der der eigene Körper das nachempfindet, was man bei anderen Lebewesen an Sinneswahrnehmung sieht.
Gemeinsam mit ihrer Zwillingsschwester Aggie ist Inti auf zwei Kontinenten aufgewachsen, denn ihre Eltern leben seit langem getrennt. Der Vater ist Naturforscher und hat ihnen im kanadischen Vancouver die Liebe zur Natur nahegebracht. In Syndney in Australien arbeitet ihre Mutter als Ermittlerin bei der Polizei und beschäftigt sich in ihrem Kommissariat mit Missbrauchsfällen.
Nach einem furchterregenden Erlebnis an ihrer letzten Wirkungsstätte in Alaska freut Inti sich gemeinsam mit ihrer Schwester auf einen Neuanfang in Schottland. Während Aggie aufgrund der vergangenen Ereignisse zurückgezogen lebt, widmet sich Inti dem Wolfsprojekt. Dabei ist ihr klar, dass die wilden Tiere von den Anwohnern gefürchtet sind, die sich im Fall der Gefahr selbst verteidigen werden. Ein Zwischenfall gibt ihr Recht. Ihre eigene Liebe zu den Tieren treibt ungeahnte Auswüchse im Kampf um deren Leben, wobei sie von ihren eigenen Ängsten eingeholt wird.
Die Darstellung der Aussiedlung der Wölfe empfand ich als realistisch. Man spürt aus Intis Handlungen ihre Zuneigung zu den anpassungsfähigen Tieren. Gleichzeitig ist da aber auch ihr anhaltender Schmerz über das dramatische Geschehen in der Vergangenheit zu spüren, an dem sie sich eine Mitschuld gibt. Dabei geht es um den Missbrauch und Gewalt gegen Frauen. Durch die Tätigkeit ihrer Mutter hätte ich die beiden Schwestern sensibler für dieses Thema eingestellt gehalten, doch Inti wird sich über der Tragweite der physischen und psychischen Verletzungen erst bewusst als sie es über ihre Synästesie am eigenen Körper nachempfindet. In der kleinen Gemeinde in der Nähe des Wolfsreservats erspürt sie wieder einen Übergriff, der sie wütend, aber auch hilflos macht.
Im Mittelpunkt der Geschichte stehen menschliche Gefühle. Inti hat zu ihrer Schwester immer schon eine ganz besonders intensive Verbundenheit. Nicht immer war mir ihr Verhalten im Umgang mit Aggie verständlich. Beide leiden psychisch unter den vergangenen Geschehnissen. Zwar spricht die Autorin kurz an, dass professionelle Unterstützung hilfreich sein könnte, aber sie wird von den beiden nicht in Anspruch genommen.
Bei mir als Leserin warf die Erzählung die unterschiedlichsten Fragen auf, beispielsweise inwieweit wir als Menschen in die Natur eingreifen sollen. Welche Kriterien sollen wir dabei zugrunde legen? Sind es immer die „Richtigen“? Charlotte McConaghy betrachtet auch die Ansicht der ansässigen Landwirte, die ihre Schafe und Kühe frei weiden lassen.
Durch die Konstruktion der aktuellen Begebenheiten baut Charlotte McConaghy zunehmend Spannung auf, die sich zu einem furiosen Finale zuspitzt. Dabei halte ich den in der Fiktion geschilderten Umgang Intis mit ihrer eigenen Gesundheit und den Entschluss ihrer eigenen Schwester über ihr weiteres Leben für möglich, aber nicht wünschenswert.
Empathisch beschreibt Charlotte McConaghy in ihrem Roman „Wo die Wölfe sind“ die innere Zerrissenheit der Protagonistin Inti, die ein Projekt zur Auswilderung von Wölfen in Schottland leitet. Die dramatischen Erlebnisse in deren Vergangenheit werden immer mehr aufgedeckt und zeigen Inti als einen verstörten Charakter. Der Roman ist für feinfühlige Personen aufgrund bestimmter Darstellungen eher nicht geeignet und grundsätzlich ein emotionales bewegendes Leseerleben, das mich nachdenklich stimmte.