Der Gedanke, zu sehen wie mein verehrter Goethe in der heutigen Zeit zurechtkommt, ist sehr reizvoll und daß es eine hervorragende Buchidee ist, habe ich in "Anna und der Goethe" bereits erfreut bemerkt. Christian Tielmann geht diesen Gedanken von einem originellen Blickwinkel an - Goethe und Schiller machen keine Zeitreise, sondern sind einfach nicht gestorben und leben deshalb 2019 als rüstige Herren von 270 bzw 260 Jahren. Warum das so ist und warum manche Gefährten (die Ehefrauen, Cotta, Eckermann ua) ebenfalls noch leben, andere dafür nicht, wird leider nicht erklärt. Letztlich ist es aber auch nicht wirklich wichtig, man muß sich eben auf diese Idee einfach mal einlassen.
Und so begegnet uns Goethe zu Buchanfang auf dem Bahnsteig von Weimar, wo er auf den Regionalexpress und Schiller wartet. Ein gelungener Einstieg, der uns gleich in die Geschichte hineinführt und die notwendigen Hintergrundinformationen gut vermittelt. Wie dann Schiller in letzter Minute erscheint und wie unterschiedlich die beiden Geistesgrößen ihre Bahnreise angehen, das ist unterhaltsam und gut geschildert. Genau so könnte ich es mir vorstellen. Überhaupt hat Christian Tielmann meines Erachtens sowohl Schiller wie auch Goethe gut in die neue Zeit transportiert, die meisten Verhaltensweisen erscheinen mir absolut nachvollziehbar, oft habe ich innerlich mit dem Kopf genickt und gedacht: "Ja, genau so würde Goethe das heute angehen." Einige nette Text- und Zitatanspielungen finden sich auch immer wieder, und gerade Goethefans werden einige schöne Stellen finden. Schiller kam im Buch leider weniger vor, als ich es von einem "Goethe-Schiller-Desaster" (so der Untertitel des Buches) erwartet hätte. Wir erleben alles aus Goethes Sicht, das paßt auch gut, aber Schiller kommt irgendwie nur am Rande vor. Ich hätte mir viel mehr Interaktionen zwischen den beiden gewünscht.
Der Schreibstil ist eingängig und läßt sich sehr leicht lesen. Ich hatte das Buch als Geschenk einer lieben Freundin im Urlaub als Abendlektüre dabei und es war dafür auch genau richtig - von Stil und Inhalt her heiter-leicht, zum Lesen sehr entspannend. An wenigen vereinzelten Stellen fand ich einige Formulierungen ziemlich holprig, wie zB auf Seite 174: "Schiller stand auf: 'Wir sehen dich dann nachher bei der Lesung,' schlug Schiller vor." Dies sind aber wirklich nur Ausnahmen. Nicht so gut gefiel mir, daß es manchmal etwas platt wurde, so finde ich den Gag, daß Goethe von Kohlensäure rülpsen muß, einfach zu flach, versehentliche Rülpser waren vielleicht in den 1970ern noch etwas, was das Publikum zu Lachen brachte, und die dreimalige Verwendung von "Schiller, die Sau" war mir ebenfalls zu flach und wäre außerdem nichts, was Goethe (noch dazu wiederholt) sagen würde. Da hätten die Eigenheiten unserer Klassikerfreunde doch wesentlich geistvolleren Humor ermöglicht.
Interessant ist die Begegnung von Goethe und Schiller mit ihrem größtenteils jugendlichen Publikum in einer Welt, in der diese beiden Autoren (leider!) nicht mehr die Bedeutung haben, die ihnen früher zuteil wurde. Beide gehen im Buch ganz anders damit um, und auch hier habe ich innerlich oft genickt und mir gedacht, daß es sehr gut ausgearbeitet ist und ihren Persönlichkeiten entspricht. Man sieht an vielen Stellen, daß Christian Tielmann tiefgehendes Wissen über Goethe und Schiller hat und sich sorgfältige Überlegungen zu ihren Reaktionen und Gedanken gemacht hat. Es sind viele originelle Szenen enthalten. Die Lesungsszenen (unsere beiden Weimarer Größen sind auf einer Lesungstour) wiederholen sich leider manchmal doch ein wenig und an manchen Stellen hatte ich mir etwas mehr erwartet, aber ich habe an keiner Stelle das Interesse verloren und war immer gespannt, was ihnen als nächstes widerfährt und wie sie damit zurechtkommen. Auch die teils trostlose Welt der Kleinstädte, der veralteten Pensionen und oft desinteressierten Lesungsgastgeber war richtig gut einfangen.
Das Ende hat mir leider überhaupt nicht gefallen. Nachdem das Buch sich durch Humor und Leichtigkeit auszeichnete, war mir dieses Ende für den allgemeinen Tenor einfach zu viel, zu heftig. Es ging so weit weg von der Ausrichtung des Buches, daß es leider eben auch die Wertung stark beeinflußt hat. Die letzten Zeilen des Buches sind dagegen wieder sehr passend. Insgesamt kann ich das Buch durchaus empfehlen, weil man sich auf eingängige Art mit Goethe und Schiller beschäftigen kann, die Anspielungen und kleinen Zitate Spaß machen und unsere zwei Klassiker gut in die heutige Zeit transportiert wurde.