Schwierige Ermittlungen mit Überraschungen
Von Zeit zu Zeit, freilich nicht oft, stoße ich auf ein Buch, das mich innehalten lässt, von dem ich schon nach wenigen Seiten weiß, dass es des Lesens wert ist, dass es auch über die Lektüre hinaus bei ...
Von Zeit zu Zeit, freilich nicht oft, stoße ich auf ein Buch, das mich innehalten lässt, von dem ich schon nach wenigen Seiten weiß, dass es des Lesens wert ist, dass es auch über die Lektüre hinaus bei mir bleibt. Das ich deshalb langsam und mit Bedacht lese, weil es kein schnelles Durchlesen und dann Abgehaktwerden verdient. „Unbezähmbare Gezeiten“ ist so ein Roman, ein kluger, ein langsamer, ein im besten Sinne altmodischer Krimi, mit einem Ermittler, der ganz allmählich ein Gesicht bekommt, dessen nachdenkliche und ganz und gar unspektakuläre Herangehensweise an einen Fall, der zu Anfang überhaupt keiner zu sein scheint, ich mag.
Er ist ein unauffälliger Mann, dieser Jörgensen aus Kiel, der bereits seiner Verrentung entgegen geht, niemand, der sich durch waghalsige Aktionen auszeichnet oder seine eingebildeten Supermannqualitäten, mit denen ihn der Autor dankenswerterweise auch nicht ausgestattet hat, beweisen muss, niemand, bei dem die Gedankenblitze Funken sprühen. Dafür überzeugt er mich durch seine Menschlichkeit, seine Höflichkeit im Zusammenspiel mit den Personen – allesamt gut gelungen in ihrer Unterschiedlichkeit, ihrer Individualität, ob sympathisch oder nicht -, mit denen er es im Laufe seiner bedächtigen Ermittlungen zu tun bekommt, und nicht zuletzt durch seinen liebevollen Umgang mit seiner Frau Sabrina, die man am Rande ein wenig kennenlernt, denn ein Blick ins Privatleben des ruhigen Polizisten wird dem Leser auch gewährt. Gerade genug, um den Protagonisten auch abseits seiner beruflichen Arbeit wahrzunehmen. Und da gibt es, so darf man feststellen, keinen Bruch zwischen dem Kommissar und dem Privatmann Jörgensen, der Mann ist einfach authentisch – hier wie dort!
Eine ganz wunderbare Figur hat der Autor mit diesem seinem Kieler Kommissar geschaffen - durchaus dem soliden, stets auf dem Boden bleibenden Inspektor Battle der Meisterin Agatha Christie vergleichbar -, von dem man sich wünscht, ihm wiederzubegegnen. An einen wie ihn kommt keiner der heldenhaften und draufgängerischen, in der Regel auch noch spektakulär gut aussehenden Inspektoren, Kommissare, Privatermittler, oder wie auch immer sie sich nennen, mit ihrem hyperaktiven Gerenne und Gehaste heran, die mich in viel zu vielen der Krimis, die heutzutage ersonnen oder vielmehr zusammengeschustert werden, langweilen oder sogar richtig ärgern!
Bei aller Unaufgeregtheit, die nicht nur dem Kommissar sondern der gesamten Geschichte eigen ist, ist der Krimi doch spannend und rätselhaft, von Anfang an, genauer gesagt, nachdem klar ist, dass der vermeintliche Drogentod des Studenten und Sohn eines stadtbekannten, hochgeachteten Wohltäters und einer beherrschten und immer verständnisvollen Pastorin, Johannes Gilmer, in Wirklichkeit Mord war, spürt man eine unterschwellige Gefahr, von der man lange nicht mit Gewissheit sagen kann, von wem sie ausgeht und wem sie gilt. Die Nebel beginnen sich erst dann langsam zu lichten, als eine zweite Leiche gefunden wird, mit der weder Jörgensen noch der Leser rechnen konnte. Die schließliche Auflösung kam für mich überraschend, obwohl sie, hätte ich genauer hingeschaut, zu vermuten gewesen wäre! Doch auch der Kommissar hat die Hinweise, auf die er in der Wohnung des getöteten jungen Mannes gestoßen ist, nicht als solche deuten können, nicht einmal, nachdem ihm seine gebildete Ehefrau eines der beiden Bücher, mit denen sich Gilmer junior allem Anschein nach intensiv beschäftigt hatte, Platons 'Politeia', genauer erklärt hatte.... Damit nicht genug, hätte das zweite Buch, T.S.Eliots 'Murder in the Cathedral', den entscheidenden Hinweis liefern können, hätten denn ich als Leser und Jörgensen selbst die richtigen Schlüsse gezogen – und in Zusammenhang gebracht mit dem, was man zu diesem Zeitpunkt bereits über Johannes Gilmer wusste. Was freilich wenig genug war und bis zum Ende, das nicht recht befriedigend, aber realistisch ist und somit haargenau zu dem Rest des Krimis passt, auch nicht viel mehr wird. Der unglückselige junge Mensch, auf der Suche nach sich selbst, dessen kurzes Leben so abrupt beendet wurde, der keine nachdrücklichen Spuren hinterlassen hat und dem niemand wirklich nachzutrauern scheint, bleibt ein Unbekannter. Und das, sehen wir es positiv, lässt viel Spielraum für eigene Interpretationen! Letzteres tut, so möchte ich behaupten, im Übrigen der gesamte Krimi mit dem kryptischen Titel, den der Leser allerdings, hat er denn die Geschichte aufmerksam gelesen und darüber hinaus mitgedacht, durchaus in Beziehung zur Handlung setzen kann.
D.H.Ambronn traut, das muss man schon sagen, dem Leser einiges zu, serviert ihm nichts auf dem silbernen Tablett, führt ihn nicht am Gängelband durch seinen Roman und scheint vielmehr davon auszugehen, dass er seinen eigenen Weg findet, dabei den gelegentlichen Wegweisern folgt oder sich seine eigenen zimmert. Nichts ist plakativ an der Geschichte, das offensichtlich Erscheinende kann täuschen und man muss schon sehr genau hinschauen auf seiner Reise durch diesen nicht umfangreichen, aber dennoch sehr komplexen und gescheiten Kriminalroman, der in seiner auf den ersten Blick einfachen und gemächlichen Art tiefgründiger ist als die immer gleiche Krimikost mit ihren Blendeffekten, hinter denen sich gähnende Leere verbirgt, die man heutzutage – oft aufs Geschickteste vermarktet - vorgesetzt bekommt. Und so wünsche ich den „Unbezähmbare(n) Gezeiten“ eine geneigte Leserschar, einer solchen, die der plumpen und atemlosen Action überdrüssig und eher dem feinen, subtilen Kammerspiel zugeneigt ist!