Grausam und fesselnd
„Die Angst, die Lovedays Körper durchströmte, verwandelte sich in eine ebenso vertraute Empfindung, das Gefühl schrecklicher Gewissheit: Die Erkenntnis, dass er in der Lage war, einem anderen Menschen, ...
„Die Angst, die Lovedays Körper durchströmte, verwandelte sich in eine ebenso vertraute Empfindung, das Gefühl schrecklicher Gewissheit: Die Erkenntnis, dass er in der Lage war, einem anderen Menschen, das Leben zu nehmen. Und damit sein eigenes zu retten.“
Die erschöpften Essex Dogs wollen nichts anderes, als zurück nach Hause. Doch zuvor gilt es noch eine weitere Schlacht zu schlagen - und die wird in die Geschichte eingehen. Die reiche Hafenstadt Calais gilt es zu belagern und einzunehmen. Und die Gemeinschaft der ausgedünnten Dogs beginnt zu bröckeln …
Im zweiten Teil der Essex Dogs Reihe beleuchtet Dan Jones, Historiker und Mittelalterexperte, die blutige und zermürbende Belagerung und Schlacht um Calais im Rahmen des 100jährigen Krieges - und er schafft es, historische Fakten so fest an die Protagonisten zu knüpfen, dass selbst ich nicht irgendwann zurückgelassen werde. Normalerweise ist es bei mir so, dass zu viel Grausamkeit und zu viel Leid bei mir unweigerlich irgendwann dazu führen, dass ich abstumpfe, dass ich die handelnden Figuren nicht mehr fühle und das ich nicht mehr an ihrer Seite bin. Doch in „Winterwölfe“ war das wie auch schon in „Essex Dogs“ anders, obwohl man nicht leugnen kann, dass der 100jährige Krieg an wahrhaftiger Grausamkeit kaum zu übertreffen ist. Und Jones beleuchtet jede einzelne Blutlache und jedes abgetrennte Körperteil, dessen seid euch gewiss. Er beschönigt nichts und glorifiziert dieses 100jährige Leid nicht. Warum sollte er auch?
Stattdessen erzählt er uns die Situation der Soldaten in diesem Krieg. Er erzählt von Lovedays verzweifeltem Festhalten am Licht, von der Sucht und der Suche nach Liebe von Romford, dem jungen Bogenschützen, von der stillen Trauer um verlorene Freunde und von ihrem Weg durch Schlamm, Blut, Exkremente und abgehakte Gliedmaße. Er beschreibt, wie sie selbst den Tod bringen und wie sie von Erinnerungen heimgesucht werden. Multiple Kriegstraumata sind hier in den Seiten eingebettet. Er spielt mit den verschiedenen Sehnsüchten der Männer und lässt sie selten etwas Schönes erleben. Wenn, dann nimmt es der Leser umso stärker wahr. Die Männer werden nicht als Helden dargestellt, sondern als Menschen, die überleben wollen und die zum Teil auch mitgerissen werden von den Gräueltaten des Krieges. Wie sie in Zügellosigkeit verfallen - ich habe die gesamte Bandbreite an Emotionen durchlebt - Ekel, Hass, Schockiertheit - und gleichzeitig habe ich mich immer wieder gefragt, was Menschen - was ich - in einer solchen Ausnahmesituation getan hätte. Das fragt man sich natürlich nicht gerne. Ich bin auch oft gedanklich zurückgeschreckt.
Und ich glaube, Dan Jones möchte, dass wir uns genau diese Frage stellen.
Natürlich ist die Sprache der Kriegssituation angepasst. Sie war immer grob, fast immer vulgär. Bin ich es ihr manchmal überdrüssig geworden? Ja, sicherlich. Dan Jones hat mit „Winterwölfe“ ein grausames Stück Geschichte wieder zum Leben erweckt und mir einige Denkanstöße gegeben. Der Roman ist kein Mittelalterschmöker zum Reinkriechen - es ist ein Buch über den Krieg, über ein dunkles Mittelalter und über die Gier nach Macht und Geld. Manchmal hat mich das ermüdet - ich vergebe vier Sterne.