Feinfühlig, liebevoll, tröstlich
Madame Michèle Seld Michka genannt, ist eine alte, allein lebende Dame, die die Worte verliert und durch andere ersetzt. Die die Leere, die selbst die falschen Worte zunehmend verschluckt zu umgehen versucht. ...
Madame Michèle Seld Michka genannt, ist eine alte, allein lebende Dame, die die Worte verliert und durch andere ersetzt. Die die Leere, die selbst die falschen Worte zunehmend verschluckt zu umgehen versucht. Michka sitzt in ihrem Sessel im Wohnzimmer. Sie kann nicht aufstehen. Die Stimme der Notrufzentrale versucht sie zu beruhigen und ruft Marie an, die sich auf den Weg zu Michka macht. Marie hilft Michka aus dem Sessel und führt die Gangunsichere durch die Wohnung. Sie war schon mehrfach gefallen und hat das Vertrauen in ihre Fähigkeiten verloren. Michka und Marie kennen sich ewig, sie waren Nachbarinnen, als Marie ein kleines Mädchen war. Michka hat Marie immer aufgenommen, wenn deren Mutter depressiv im Bett lag oder für Tage verschwand. Marie möchte Michka nicht mehr allein lassen. Sie verbringt die Nächte bei ihr, muss jedoch tagsüber arbeiten. Sie sprechen über betreutes Wohnen und Michka ist einverstanden.
Michka sitzt vor der pampigen Direktorin eines Seniorenstifts. Sie muss persönliche Fragen beantworten, scheint aber die falschen Antworten zu geben. Die zunehmende Ungeduld der Frau stürzt sie in Panik. Dann erwacht sie mit klopfendem Herzen. Diese Albträume fallen jetzt häufiger über sie her.
Michka hatte ihr Geld immer selbst verdient. Zuerst mit Fotoreportagen, später korrigierte sie Artikel, Grammatik und Syntax lagen ihr. Marie weiß, welcher Mensch Michka war und möchte, dass sie in Würde alt werden kann.
Fazit: Wie bemisst sich Dankbarkeit? Nicht die tägliche Floskel für die Rückgabe des Wechselgelds oder weil jemand die Tür aufhält, durch die ich gehe. Dieser Frage geht Delphine De Vigan nach. Sie schreibt voller Feingefühl und zeigt Werte, die in unserer Leistungsgesellschaft an Stellenwert verlieren und uns kranken lässt. Die Aphasie der Protagonistin ist eindrücklich gezeigt. Zuerst werden die Worte, die nicht mehr erinnert werden, durch andere ersetzt (zum Beispiel Dante statt Danke oder Oje statt Ok). Im weiteren Verlauf der Demenz wird fast nur noch unzusammenhängend gestammelt. Und es bricht einem das Herz, eine bis ins hohe Alter selbstständige Frau in ihrer ganzen Hilflosigkeit zu sehen, dieser Erkrankung ausgeliefert zu sein. Sowohl Marie als auch Michka sind von tiefer Dankbarkeit erfüllt, für Menschen, die ihnen das Leben gerettet haben. Das war liebevoll, tröstend und verbindend.