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18,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Suhrkamp
  • Themenbereich: Belletristik - Belletristik: zeitgenössisch
  • Genre: Romane & Erzählungen / Sonstige Romane & Erzählungen
  • Seitenzahl: 287
  • Ersterscheinung: 12.12.2022
  • ISBN: 9783518431290
Deniz Ohde

Streulicht

Roman | Frankfurt liest ein Buch 2023

Wahrhaftig und einfühlsam erkundet Deniz Ohde in ihrem gefeierten Debütroman die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Sie spürt den Sollbruchstellen im Leben ihrer Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis der Hausrat aus allen Schränken quoll. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, ehe sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst – zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden.

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.02.2025

Sehr feinfühlig erzählt

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Ihr Vater hat vierzig Jahre lang vierzig Stunden pro Woche Aluminiumbleche in Laugen getunkt. Er will nichts mit den Menschen im Ort zu tun haben, meidet sie oder wendet sich ab und die Leute weisen ihn ...

Ihr Vater hat vierzig Jahre lang vierzig Stunden pro Woche Aluminiumbleche in Laugen getunkt. Er will nichts mit den Menschen im Ort zu tun haben, meidet sie oder wendet sich ab und die Leute weisen ihn ab. Gleich hinter dem Mehrfamilienhaus brummt der Industriepark der Chemiefabrik. Die Luft schmeckt säuerlich, der winterliche Schnee ist klebrig und die Nächte sind hell. Nebenan wohnt der Mann mit dem Vokuhila und den beiden durchgedrehten kleinen Hunden. Ihr blinder Großvater ist inzwischen ins Erdgeschoss gezogen, aber erst als ihre Mutter den Vater und den Opa lange finster angesehen hat. Vaters Vorratsschränke müssen immer voll sein. Auf den Wühltischen der Einkaufsmärkte findet er immer ein paar zusätzliche Eineuro-Artikel. Ihre Mutter hortet die Mitbringsel im Schlafzimmer, versucht ihnen mit Stapeln von Plastik Herr zu werden.

Sophia ist ihre Freundin. Sie trägt einen Tornister, auf dem ihr Name steht. Ihren eigenen Namen hält sie geheim, er gefällt ihr nicht. Sophias Mutter ist organisiert und tough, nichts liegt herum, das verunsichert sie. Ihre eigene Mutter kommt aus einem Dorf, in dem man das Wasser kaufen musste. Jeden Morgen rief der Muezzin und am Freitag ging sie in die kühle Moschee. Ihre Großmutter hatte die Dschinns beschworen, deshalb wurden alle in ihrer Familie über hundert.

Für ihren Vater ist das Wünschen verboten. Es gehört den Sentimentalen, den Frauen, denen, die es sich leisten können. Wer etwas will, wird zu einer Bürde für die Familie. Das ist einer der Gründe, warum sie ihre Mutter an vielen Morgen Scherben auffegen sieht.

Fazit: Deniz Ohde hat ein äußerst feinsinniges Debüt geschrieben. Ohne anzuklagen zeigt sie ihre Protagonistin, die in ihrer türkischen Familie aufwächst. Der Vater kompensiert seine anerzogene Bescheidenheit und die frühe Berufswahl mit Alkohol. Die Mutter leidet darunter, weiß sich jedoch nicht zu wehren. Die Tochter versucht unterm Radar zu fliegen und unauffällig zu sein. Sie hat einen sechsten Sinn entwickelt, der die Ausbrüche des Vaters vorhersagt und kann ihm aus dem Weg gehen. Ihr Selbstwert leidet so stark, dass sie in der Schule von allen unterschätzt wird. Ältere Mitschüler feinden sie wegen ihrer Herkunft an, verstehen nicht, dass sie Deutsche ist. Sie lernt mehr als andere, aber im mündlichen bricht ihr die Stimme. Die Autorin erzeugt eine besondere Stimmung. Sie erzählt leise und gedrückt, zeigt mir Bilder dieser deutschen Kleinstadt mit der Chemiewerkskulisse und den regelmäßigen Übungen zum Schutze der Bevölkerung. Es ist die Geschichte einer Migration, die nur teils geglückt ist. Es ist eine Geschichte fehlender Chancengleichheit im Bildungssystem, aber auch eines dysfunktionalen Bildungssystems, das die stillen Angepassten einfach hängenlässt und gesellschaftlicher Vorurteile. Ein besonderes Buch, das denen eine Stimme gibt, die stets überhört werden.

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Veröffentlicht am 05.06.2024

Eine sprachliche Wucht!

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Ich bin in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ ab der ersten Seite versunken und habe mich heimisch gefühlt; entgegen vieler Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte und die es als etwas schwierig bezeichneten, ...

Ich bin in Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ ab der ersten Seite versunken und habe mich heimisch gefühlt; entgegen vieler Kritiken, die ich zuvor gelesen hatte und die es als etwas schwierig bezeichneten, in den Roman hineinzufinden. Vielleicht liegt es am ähnlichen Alter und dem mir wohl bekannten Sound einer 90er-Jahre-Kindheit; ich hatte sofort das Gefühl eine alte Freundin wieder zu treffen, Geschichten aus Kindertagen von damals zu hören. Während die Erzählung zu Beginn noch etwas vor sich hin plätschert nimmt sie ab ca. Seite 50 Fahrt auf und das Bild verdüstert sich zusehends. Stück für Stück offenbart sich eine Welt frei von jeglicher Sicherheit mit einem trinkenden, unwichtige Dinge hortenden Vater, einer stoisch alles aushaltenden Mutter, einem ignoranten Umfeld, in dem kaum gesprochen wird, ein stilles Kind nichts zu Hoffen und noch weniger zu Erwarten hat. Mich schmerzte das Hadern des Mädchens mit seiner Herkunft, allem voran mit seinem ungewöhnlichen Namen, dem „Geheimnamen“, der nicht genannt werden darf und den auch wir Leser*innen nicht erfahren, dem nicht richtigen Gesicht, dem man das Fremde ansehen könnte. Wie ist es möglich, dass Eltern bei dem Kind eine solche Entfremdung von der eigenen Identität nicht bemerken oder einfach so hinnehmen, fragte ich mich, und die Antwort lautet wohl, weil sie ihre eigene nicht (aner)kennen, ihr keine Bedeutung beimessen. Tiefe Einsamkeit und ein beständiges Gefühl des Fremdseins begleitet die Ich-Erzählerin, das auch von den beiden engsten Freunden nicht aufgefangen wird - im Gegenteil wird auch hier immer nur betont sie sei ja nicht wie „die anderen (Ausländer)“, was sie genau dazu macht. Alles gilt ihr persönlich, alles kommt ihr so nah und verdrängt sie an den Rand, wo ihr nichts als Zusehen und Hinnehmen bleibt.

Bei aller Empathie und Verständnis für den schwierigen Background der Protagonistin habe ich mich doch (besonders im Mittelteil) schwer getan mit dem wirklich stark ausgeprägten Selbstmitleid. Ich hätte das Mädchen schütteln mögen, es anschreien „wehr dich, mach etwas, such dir neue Freunde, sag doch was!“ aber dieses Unverständnis scheint mir auch einfach dem Unwissen über derartige Verhältnisse und deren Auswirkungen geschuldet; steckt nicht viel Hochmut und Arroganz dahinter?
Das letzte Drittel fand ich wieder richtig stark. Ganz zart spinnt die junge Frau erste eigene Pläne, hoffnungsvoll scheint ihr Blick in die Zukunft. Sie ist in der Lage zu reflektieren und beginnt vorsichtig sich aus der Lethargie und dem Konstrukt der Handlungsunfähigkeit ihrer sozialen Herkunft zu befreien.

Sprachlich ist das Buch eine Wucht - klare Sätze mit einer ungeheuren Schlagkraft prägen große Teile der Geschichte und entwickeln einen regelrechten Sog, der mich für die Längen im Mittelteil entschädigte. Deniz Ohde legt hier einen aktuellen Bildungsroman vor der mich an Tara Westovers „Befreit“ denken ließ und vielen Menschen eine Stimme geben dürfte.

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