Die Atmosphäre an Bord stimmte nicht - aber sie stimmt auf jeder Seite!
Um es vorwegzunehmen: Simenons „Die Pitards“ ist genial. Der Roman baut auf 166 Seiten eine Dichte, eine Spannung und ein Drama auf, die beispiellos gelungen sind. Warum? Weil Simenon auf engstem Raum ...
Um es vorwegzunehmen: Simenons „Die Pitards“ ist genial. Der Roman baut auf 166 Seiten eine Dichte, eine Spannung und ein Drama auf, die beispiellos gelungen sind. Warum? Weil Simenon auf engstem Raum griffige Ideen und Klischees so arrangiert, dass sie einrasten und zusammenarbeiten wie ein perfekt ausgetüfteltes Räderwerk.
Èmile Lannec fährt erstmals mit „seinem“ Schiff auf große Fahrt: Er hat sich die „Donnerwetter“ gerade gekauft - zusammen mit seinem Kompagnon und Ersten Offizier Moinard und einem Bankkredit, für den die Schwiegermutter gebürgt hat. Das Schiff trägt den Namen eines Schimpfwortes - nicht den der Gattin, doch ebendiese ist auf der ersten Fahrt mit an Bord. Das sind ganz viele Klischees, derer sich Simenon bedient, um mit einfachsten Mitteln einen Spannungsaufbau zu kreieren: Schwiegermutter - das klingt immer unheilvoll. Das Schiff nicht auf den Namen einer (oder der eigenen) Frau zu taufen, stiftet ebenfalls Unheil (dem man das Schimpfwort gleich entgegentrotzt). Und eine Frau an Bord? Das bringt mindestens so viel Unheil, wie einen Spiegel zu zerschlagen: „Auf dieser Reise aber stimmte die Atmosphäre nicht!“ (S. 84) - dafür aber in diesem Roman!
Mich beeindruckt, wie scheinbar mühelos Simenon dieses einfache Spannungsarrangement liefert - denn hier ist es wie mit dem Kochen: Die einfachsten Gerichte brauchen die höchste Kunst, weil sie jeder kann und sich der Könner nur durch echte Meisterschaft vom Durchschnitt abheben kann. Dem Arrangement würzt Simenon noch eine anonyme Drohung bei, zwei Stürme, einen Kontrakt unter höchstem Zeitdruck, ein bisschen Aberglauben nebst Seemansgarn und einen Schiffbruch, um die Lektüre im letzten Drittel des Romans auf allerhöchste Spannung zu heizen. Ich konnte das Buch nicht weglegen.
Das Sahnehäubchen aber liefert die schwierige Beziehung zwischen Lannec und seiner Frau bzw. zu seiner Schwiegermutter und der ganzen Familie Pitard. Diese Sippe geriert sich in Caen in Nordfrankreich offenbar als etwas Besseres, weshalb aus Lannec die ganze Hilflosigkeit und gefühlte Minderwertigkeit der unterklassigen Herkunft spricht, wenn er sich die Absichten der Pitards ausmalt - ohne sie wirklich zu kennen.
Das schwächste an dieser Ausgabe ist das auf literarische Darstellung künstlich aufgeblasene Nachwort von Elke Schmitter, das die Kargheit von Simenons Sprache ungefragt dadurch zu loben versucht, dass es adjektiv-umschwommene Wortgiganten bemüht, um die Meeresgefangenheit von Simenons Romanarrangement neu, aber schlechter zu erzählen. Das Nachwort klärt wenig, ich empfand es als überflüssig. Deshalb ignoriere ich es bei der Sternvergabe und ziehe keinen ab.