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Veröffentlicht am 01.06.2023

Haltung ist nicht Aussage, Text nicht Literatur

Babel
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Kann man diesem Buch vorwerfen, dass es die Erwartungen enttäuscht hat? Es wirkt ein wenig ungerecht, denn die Verlagsvermarktung und in Deutschland die irreführende Lobhudelei des Kritikers Denis Scheck ...

Kann man diesem Buch vorwerfen, dass es die Erwartungen enttäuscht hat? Es wirkt ein wenig ungerecht, denn die Verlagsvermarktung und in Deutschland die irreführende Lobhudelei des Kritikers Denis Scheck gehen nicht auf das Konto der Autorin Rebecca F. Kuang. Dennoch ist sie für die Enttäuschung nach bzw. schon bei der Lektüre verantwortlich, weil sie sich nicht entscheiden konnte oder wollte, in welches Genre ihr Roman passen soll. So gut, dass er alle Genregrenzen spränge, ist er nämlich bei weitem nicht. Ist das

„Dark Academia“? [Nein – es fehlt die romantisierende Seite dieses Kostümspektakels].

Fantasy? [Nein – die magischen Elemente sind völlig unterbelichtet, obwohl aus einer originellen Idee entstanden, und nicht handlungs- oder sinntragend].

Entwicklungsroman? [Nein – ihren Protagonisten Robin hat Kuang zu keinem Zeitpunkt im Griff und kann seine Entwicklung nicht erzählerisch herleiten.]

Ein historischer Roman? [Nein – zwar erfährt man ausgewählte Fakten der Vergangenheit, aber auch viele Fiktionen und insbesondere Protagonisten, denen nichts Historisches anhaftet außer ihrem Geburtsdatum.]

Ein Bildungsroman? [Vielleicht – zusammen mit den Protagonisten geht der Roman das linguistische Propädeutikum durch.]

Ein Gesellschaftsroman? [Vielleicht – Kuang beschreibt die Zwänge an einer englischen Eliteschule des 19. Jahrhunderts und die Auswirkungen von technischem Fortschritt und Kolonialismus, und zwar kritisch]. Ein bisschen von allem steckt drin, vor allem der letzten beiden mit unterschiedlichen Gewichtungen in der ersten bzw. zweiten Hälfte des Romans.

Wen diese Liste jetzt schon angähnte, hat eine Ahnung, wie sich das Lesen anfühlt.

Zum Inhalt: Robin wird in Kanton, China, geboren, kommt als Waise in der Obhut des Sprachprofessors nach England, erhält einen vorzüglichen, aber gefühlskalten Drill in den Geisteswissenschaften, um im richtigen Alter endlich nach Babel zu kommen. Das ist die sprachwissenschaftlich-magische Fakultät der Universität Oxford, an der jene herausragenden Menschen ausgebildet werden, die sich mit Übersetzungen befassen und mit der Magie des Silbers. Diese Magie gehört zu den wirklich tollen Einfällen Kuangs: Sie wird durch Sprache hervorgerufen, und zwar durch die Diskrepanz zwischen den Bedeutungen zweier Worte in zweier Sprachen. Da sich ein Wort seltenst exakt und ohne Bedeutungsverlust oder -verschiebung von einer in die andere Sprache übertragen lässt, kann von den richtigen Leuten mittels des Mediums Silber aus dieser Diskrepanz eine magische Wirkung erzeugt werden. Das Finden dieser Wortpaare ist die Hauptaufgabe der Babbler aus Babel. Da sich Wortpaare durch Gebrauch abnutzen und da Sprachen ihre Relevanz in der Welt verlieren -man könnte fast sagen: ihren „Zauber“ -, sind die Sprecher exotischer Sprachen besonders begehrt, um die Magie aufzufrischen. Da kommen Robin und seine Freunde Ramy (Indien) und Victoire (Haiti) ins Spiel. Sie sind die Vertreter einer vielversprechenden „Diversity“ an der Universität, kommen aber bald dahinter, dass Babel ein Instrument der Macht Großbritanniens ist. Da sie sich nicht länger ausbeuten lassen wollen und generell die Ausbeutung der Ohnmächtigen durch die Mächtigen verhindern wollen, finden sie auf unterschiedlichen Wegen in den Widerstand zum System. Am Ende wird es Verrat, Vatermord und viele Opfer geben und sogar einen heroischen Versuch, in den Opiumkrieg Großbritannien gegen die Qing-Dynastie einzugreifen.

Bis dahin ist es aber ein weiter Weg – sowohl für die Protagonisten wie auch für den Leser. Denn zunächst breitet die Autorin, die eine Mixtur aus Geschichte, politischen Wissenschaften, chinesischer Philosophie und Literatur studiert hat, jede Menge sprachwissenschaftliche und linguistische Fachlichkeiten aus, die insbesondere dann beeindrucken, wenn man von dem Thema vorher noch keine Ahnung hatte. Der Rezensent gehört nicht in die Kategorie der Ahnungslosen, weshalb die vielen Ungenauigkeiten und Nebelgranaten der Autorin mir unangenehm auffielen. Das beginnt bei falschen Übersetzungen aus dem Lateinischen („disce“ S. 49, „imperium“ S. 55, „transferre/transducere“ S. 228). Nicht übersetzt oder auch nur erklärt werden hingegen die nahezu nur an englischen Universitäten üblichen Bezeichnungen der akademischen Trimester („Michaelmas", „Trinity“, „Hillary“). Vergil heißt mal Vergil, dann wieder (englisch) „Virgil“, Kaiser Karl V. heißt „Charles“ als König von Spanien (und nicht Carlos). Warum das stört? Weil es doch immerhin um Übersetzung geht!

Der ganze, längliche Übersetzungsdiskurs nervt auch, weil er erkenntnistheoretisch hinter der Grundsatzfrage zurückbleibt, ob „Übersetzung" nicht automatisch stattfindet, wenn Gedanken, Empfindungen oder Sinneswahrnehmungen in Worte gefasst werden – ungeachtet, welcher Sprache diese Worte entstammen oder gar ob sie von einer in eine andere Sprache übersetzt werden. Das sind hermeneutische Grundbegriffe, aus denen man vielleicht einen spannenden Roman machen kann. In mir erzeugt es den Eindruck, die Autorin würde das in ihrem Literaturgrundstudium Erlernte irgendwie präsentieren wollen, Universalienstreit inklusive. Besonders schwierig wird es dann, wenn Übersetzung auch noch zur Machtfrage stilisiert wird und der gelehrte Wissenseifer durch eine Kolonialismusdebatte diskreditiert wird.

Hierher gehört der Hinweis, dass der Roman im Original „Babel, or the Necessity of Violence“ heißt – der Hinweis auf die „Notwendigkeit der Gewalt“ wurde dem deutschen Publikum aber aus unerfindlichen Gründen vorenthalten.

Dahinter steckt aber das eigentliche Anliegen der Autorin, die ja kein Sachbuch zur Translationstheorie schreiben wollte: Die Ungleichverteilung von macht und Ohnmacht, Gewalt und Erdulden, die sich insbesondere im Kolonialismus versinnbildlicht, in dem eine imperialistische Großmacht eine technologisch weniger entwickelte Nation ausbeutet. Oder: Im Verhältnis Eltern- Kinder, im Verhältnis Lehrer – Schüler, im Verhältnis Reich – Arm. Überall lässt sich die durch Gewalt durchgesetzte Hierarchie finden. Ob das auch auf Sprache zutrifft, ist mehr als fraglich. Die Idee, speziell das Englische habe andere Sprachen als Lehnwörter unterjocht (S. 238), ist barer Unsinn.

In dieser engagierten Wendung gegen Imperialismus, Kolonialismus und Machtmissbrauch liegt aber auch eine Schwäche des Romans: Die Hauptfiguren haben alle ausgesprochen moderne Mindsets. Sie sind gleichberechtigt denkende, aufgeklärte, sozialkritische und basisdemokratische Typen, die überhaupt nicht in die Zeit passen. Es ist ausgesprochen einfach, das britische Weltreich zeittypisch darzustellen und böse, gefährlich und machthungrig aussehen zu lassen, wenn man es mit modernen Charakteren kontrastiert - und nur mit diesen. Zumal die Vertreter der „alten Ordnung" kaum mehr charakterisiert werden, als dass sie zuschlagen und Frauen verachten. Den „Gegnern" wird immer gleich ein mieses Motiv unterstellt oder sie sind geistig minderbemittelt. Das ist plump.

Der Autorin fehlt hier meines Erachtens die Fähigkeit, ihre Aussagen literarisch zu präsentieren, stattdessen kommen sie essayistisch und platt. Das korrespondiert mit der gerade in der ersten Hälfte des Romans auffallend lahmen Erzählweise. Gerade im häufig herangezogenen Vergleich zu Harry Potter fällt das auf: Die Gemeinsamkeit beschränkt sich auf die Tatsache, dass Jugendliche an einer englischen Magierschule arkanes Wissen erlernen. Während Rowling aber die Kinder gemeinsam und im Dialog die Merkwürdigkeiten ihrer Schule entdecken lässt, lässt Kuang das Robin meist im inneren Dialog klären. Das ist ermüdend zu lesen und folgt nicht dem guten Ratschlag "Show, don't tell". Insbesondere nervig wird das, wen wir ausschließlich auf Robins naive Einschätzung der Welt angewiesen sind, wenn es um die Beurteilung von Personen oder (Geheim-)Bünden geht.

Ja nicht missverstanden werden zu wollen, ist wohl die Sorge, die auch zum vorangestellten Disclaimer auf den allerersten Seiten geführt hat: In welcher Welt ist es notwendig zu erklären, dass es früher Sklaverei gab und dass es heute nicht vertretbar ist, Sklaven zu halten? Für mich klingt das nach dem us-amerikansichen Wokismus, vor dem sich die Autorin bewahren muss, obschon sie ihren Roman in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ansiedelt. Ich halte es für einen Teil der Schulbildung, die ich voraussetze, zu wissen, dass es bspw. vor 1865 in den USA die Sklaverei gab, dass also Romane, die vor diesem Datum spielen, implizit das Phänomen der Sklaverei aufweisen. Das pure Erscheinen dieses Phänomens hat nichts mit einer moralischen, ethischen oder sonstwie an Haltungsfragen orientierten Aussage zu tun. Der Disclaimer sollte also eigentlich lauten: "Bitte erinnern Sie sich an Ihre Schuldbildung und setzen Sie alle innertextlichen Aussagen in den historischen Kontext."

Kurzum:

Der Roman verspielt seine guten Ideen durch langweiliges Erzählen, eklatante Handlungsarmut, unverständlich handelnde Figuren, platte Kolonialismuskritik und allgemeine Überladenheit an kritischen Themen, durch einen naiven Gegensatz von historischer Welt (1840) zu modern angelegten Protagonisten und nicht zuletzt durch die akademische Nabelschau der imponiersüchtigen Akademikerin Rebecca F. Kuang.

1,5 Sterne gibt es für die guten Ideen und einen halben für mich, weil ich durchgehalten habe.

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Veröffentlicht am 01.06.2023

Für alle, die es ernst meinen mit ihrem Spaß an Game of Thrones

Die Wissenschaft von Game of Thrones
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Der Sammelband „Die Wissenschaft von Games of Thrones“, herausgegeben von Jena-Sebastién Steyer, versammelt sieben Aufsätze zur Fantasy-Saga von George R. R. Martin, die mit vollem Ernst und der ganzen ...

Der Sammelband „Die Wissenschaft von Games of Thrones“, herausgegeben von Jena-Sebastién Steyer, versammelt sieben Aufsätze zur Fantasy-Saga von George R. R. Martin, die mit vollem Ernst und der ganzen Expertise ausgewiesener Wissenschaftler ihres Faches in die Welt von Westeros blicken, sie analysieren, interpretieren, deuten und weiterdenken. Thematisch reicht dies von geologischen Absätzen über spannende Klimamodelle, eine anthropologisch-biologische Studie, eine Sprachanalyse bis zur Psychoanalyse Joffrey Baratheons und den psychopathologischen Auffälligkeiten fast aller Handelnder der Geschichte und zu einer kinematografisch-ikonografischen Analyse des Bild vom Tode.

Allen Aufsätzen vorangestellt ist der Hinweis, ob sich der Text auf die Fernsehserie oder die Buchsaga bezieht – oder beide –, was durchaus von Bedeutung ist. Ich habe den starken Eindruck, dass die Kapitel, die sich mit der Buchsaga befassen, deutlich mehr analytische Tiefe und interpretatorische Schlagkraft haben als die, die sich auf die Fernsehserie beziehen. Ohne zu sehr dem Kulturdefätismus nachzugeben, scheint mir das auch dem Gefälle zwischen den Büchern von Martin und insbesondere den späteren Staffeln von D&D (= Dumm & Dümmer, David & Daniel) zu entsprechen.

Meines Erachtens ist das der mit Abstand stärkste Beitrag in dem Band der des Linguisten Frédéric Landragin über „Die Sprache im Lied von Eis und Feuer“. Landragin hat einen wirklich breiten und mehrgleisigen Zugriff auf die Saga von Martin. Zum einen untersucht er den Gebrauch der von Martin zur Erzählung verwendeten Sprache, analysiert mithin also die Literarizität des Textes und bescheinigt ihm ein sehr hohes Niveau. Mit dem Gefühl, dass Martin ein vielschichtiger Erzähler komplexer Geschichten und vielfarbiger Klänge ist, liegt man also nicht falsch: Landragin weist es nach, etwa in der Analyse der "sword"-/"word"-Metaphern. Er geht hier selbstredend an das englische Original - notwendig, um den Autor wirklich analysieren zu können. Zweitens kritisiert er die französische Übersetzung. Das ist aus fachlicher Sicht ganz spannend, darauf kann ich mir als deutscher Leser allerdings auch ein Ei pellen. Es bleibt für mich bei der teilnehmenden Beobachtung, wobei die Translationsanalyse Landragins freilich auch immer das englische Original ausleuchtet, wovon ich lernen konnte (etwa S. 133 f. die Ausführungen zum "Prinzen" in den Prophezeiungen). Zum dritten widmet sich Landragin den von Martin erfundenen Sprachen seiner Welt – etwa des Dothraki – und führt hier die subtile Arte und Weise vor, in der Martin einen Sprachenbaum entwirft und verwendet, ohne ihn zum Klingen zu bringen. Der hier eingeführte Vergleich zur HBO-Serie ist deshalb umso erhellender. Als eingefleischter Tolkien-Fan und Verehrer seiner Fähigkeiten als "Conlanger" (Spracherfinder) bin ich von Martins Unternehmungen auf diesem Feld freilich ein wenig enttäuscht, aber seine Fähigkeiten liegen unbestritten auf einem anderen Gebiet.

Allerdings sind alle Beiträge auf einem hohen Niveau, zeugen von einer hedonistischen Hingabe sowohl an die Fantasy als auch das eigene Fach und überraschen mit der Erkenntnis, dass etwa ein namhafter Klimaforscher seinen privaten Rechner mehrere Wochen damit lahmgelegt hat, unterschiedliche Klimamodelle für die Welt von Westeros durchkalkulieren zu lassen.

Dennoch muss ein wenig Wasser in den Wein gegossen werden: Die Übersetzung hat offensichtlich nicht genügend Zeit gehabt, ihren Job richtig abzuliefern. Das zeigt sich in lässlichen Details, vor allem aber in den unbearbeiteten Fußnoten, die sich auf die französischen Ausgaben beziehen, die ich als deutscher Leser schlicht nicht nutzen kann. Hier hätte man unbedingt den Praktikanten oder die Volontärin an die deutschen Romanausgaben setzen müssen, um auf die Ausgabe der Sprache zu verweisen, in die der vorliegende Band übersetzt wurde, nämlich der deutschen.

Es hätte dem Band gut getan, wenn man noch einen oder zwei Beiträge aus dem deutschsprachigen Raum hinzugenommen hätte, um den deutschen Lesern in bekannteren Beispielen näher zu kommen.

Die Aufmachung des großformatigen Sammelbandes ist edel, gedruckt auf Hochglanzpapier, was den schönen Illustrationen zugutekommt, der Text durchbrochen von farbig abgesetzten Marginalien:

Alles in allem ist es eine helle Freude, echten Fachleuten bei der Ausübung ihrer Profession an einem Objekt zuzuschauen, das völlig fiktiv ist und mir auch so viel Spaß gemacht hat.

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Veröffentlicht am 12.02.2023

Großvater aller Panzerknacker

Frankie
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Frank Thaler einfach so als Loser zu bezeichnen, wäre zu weit gegriffen. Aber klar ist: Er hat ein so enges Verhältnis zu seiner Mutter, dass nur Ödipus seiner Mutter näher gewesen sein dürfte; und in ...

Frank Thaler einfach so als Loser zu bezeichnen, wäre zu weit gegriffen. Aber klar ist: Er hat ein so enges Verhältnis zu seiner Mutter, dass nur Ödipus seiner Mutter näher gewesen sein dürfte; und in der Schule hat er etwa so viele Freunde wie Robinson bevor Freitag angeschwemmt wurde. Was Frank aber hat, ist Humor – und einen Großvater, dem Frank aber erst so richtig kennen lernt, als jener nach achtzehn Jahren aus dem, Knast entlassen wird. Frank ist 14.
Franks Humor ist in Köhlmeiers Kurzroman allgegenwärtig – denn er ist der Erzähler jener Wochen seines Lebens, in dem Frank zu Frankie wird, dem Kindsein entwächst und völlig von der Rolle springt. Der Erzählton macht die Musik – er ist witzig, nah dran, reflektiert und cool, wenn der Teenager-Nerd auf seinen hartgekochten Opa trifft, der in seinem Enkel offenbar so etwas wie seine zweite Chance sieht. Denn von Anfang an traktiert der Opa seinen Enkel mit dem Erfolg des „harten Lebens“ (er schlägt ihn beispielsweise zusammen), das er freilich eigentlich selbst nicht kennt, denn Opa hat insgesamt 26 Jahre gesessen und nichts Bleibenderes geschaffen als eine Tochter, deren Talent zum Leben ebenfalls nicht ausgeprägt ist, wenn sie auch nicht kriminell geworden ist. Solche Anlagen überspringen wohl eine Generation …
„Frankie“ ist ein österreichisches Roadmovie ohne Alpensound, das so auch in Texas spielen könnte. Und es ist ein kurzes Stück über die Frage nach der Herkunft der Schuld, nach der Einsicht in Verantwortung – oder die Ablehnung derselben. Und nach der Kraft, die man benötigt, um sich von sich selbst befreien – ob mit oder ohne Damenpistole. Opas Anleitung zur Vergangenheitsbewältigung: Warum tun wir die Dinge, die wir tun? Egal, denn wir tun sie, weil wir sie tun.
Beim Lesen entfaltet die Geschichte dank der genialen Erzählstimme und den tollen Portraits von Frank (von innen) und Opa (von außen) ausgesprochen viel Freude.

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Veröffentlicht am 08.02.2023

Where have all the flowers gone?

Malvenflug
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Ursula Wiegels Familienroman „Malvenflug“ beginnt mit einem Personenverzeichnis, in dem die wichtigsten Mitglieder der Familie Prochazka aufgeführt und ihre wichtigsten Stationen genannt sind. Das ist ...

Ursula Wiegels Familienroman „Malvenflug“ beginnt mit einem Personenverzeichnis, in dem die wichtigsten Mitglieder der Familie Prochazka aufgeführt und ihre wichtigsten Stationen genannt sind. Das ist gut so, denn obwohl der Roman nur 223 Seiten füllt, besitzt er ein kopfstarkes Personal, in dem man nicht jedes Gesicht und jeden Namen sofort wiedererkennt.

Im Zentrum stehen die vier Kinder von Emma und Pavel (Paul) Prochazka und eben die beiden, der sich früh auseinandergelebt haben. Emma trägt die gemeinsamen Schulden als Gastarbeiterin im schweizerischen Davos ab (Hans Castorp winkt da auch mal durch die Zeilen), Pavel flattert als Lebemann noch weiter von Blüte zu Blüte, ehe er woanders weitere Nachkommen zeugt.

Wiegele erzählt das Schicksal der Familie Prochazka in ihrem zweigeteilten Roman in kurzen Kapiteln, die wie Dioramen nur jeweils kurze Ausschnitte aus dem Leben der Figuren zeigen. Man kommt den Familienmitgliedern deshalb nicht besonders nahe, verfolgt manche Station gleichsam wie aus einem tabellarischen Lebenslauf entnommen. Dennoch gelingt es der sehr knappen, auf das Wesentliche beschränkten Erzählhaltung Wiegeles, aus diesen wenigen Seiten mosaikartig das Panorama einer weitverzweigten Familie darzustellen – in Einzelbildern.

Das zentrale Motiv des Romans ist der Personenverbund der Familie – betrachtet als Individuen eines lebendigen Organismus. Beim Lesen verfolgt man das Werden und Vergehen der Familienmitglieder, wiederzufinden im Motiv der Blumen, an denen viele Figuren des Romans hängen. Die Stockmalven Helgas und Lottes sind wie die Familie: Der Samen der Blumen setzt den Organismus fort, wird in der Welt verstreut, blüht auf, mehret sich, bringt neue Triebe hervor und passt sich der Umwelt an. Samen sind so widerstandsfähig, wie fertige (gepresste) Blüten empfindlich sind – postalisch versendet, erreicht keine von ihnen das Ziel unbeschädigt (S. 208 f.). Auch Menschen verkraften die Entwurzelung und Verschickung nicht immer gut – am krassesten sichtbar an den Großeltern aus dem mährischen Brünn, die als Deutsche nach dem Krieg auf einem Todesmarsch aus der Tschechoslowakei vertrieben werden. Diese Blumenmetapher ist nicht besonders originell, aber sie unterlegt den Roman dezent und lässt sich vor allem durch den Titel „Malvenflug“ aufschließen.

Das Motiv der Familie wird bei Wiegele durch die großen Drangsale der Zeit der 1930er (erster Teil) und der Nachkriegszeit (bis in die 1990er Jahre) durchgespielt. Unaufgeregt, aber bestimmt leitet die Autorin uns beim Lesen durch das Länderviereck Österreich, Slowakei, Schweiz und Italien und führt das Verbindende vor, das gleichzeitig das Trennende ist: Krieg, Nazimus, Vertreibung. Dabei stellen die im Text auffälligen Austriazismen sprachlich klar, wo der Gemütskern des Romans steckt: in Österreich. Alle kleineren Motive finden sich in einzelnen Figuren gespiegelt.

Genauso unaufgeregt zeigt die Autorin die Ambivalenz des Einzelnen: Emma kann eine „Heldin“ der Familie sein, weil sie durch ihre aufopfernde Schufterei in den Schweizer Hotelküchen die Familie wirtschaftlich erhält, gleichzeitig geht ihre „Sparwut“ den Kindern zumal später auf die Nerven und verhindert, dass die Mutter in ihrer Zeit des Heldentums auch Mutter sein kann. Sohn Alfred enttäuscht den feschen Vater, weil er zwar zunächst die harten Anforderungen der Napola meistert, dann aber frömmelt, Priester wird – um sich schließlich doch wieder dem weltlichen Stand zuzuwenden und eine Familie zu gründen. Uneheliche Kinder, Ehebruch, Holocaustverleugnung, Gefühlskälte – nichts Menschliches ist hier fremd. Die Ambivalenz des Einzelnen wird dabei wertfrei dargestellt und nicht verurteilt. So kann die Autorin über politische Verirrungen, kleinbürgerliche Engstirnigkeit und zwischenmenschliche Schwächen erzählen, ohne ein Urteil – oder eine echte Deutung zu liefern.

Das hat mir gefallen, auch wenn ich gerade des nüchternen Stils, wegen und wegen der vielen Gesichter lange gebraucht habe, mit dem Roman warm zu werden. Ein Familienroman ohne große Aufregungen, sondern mit andeutungsweiser Zurückhaltung, dessen (Be)Deutung nicht unmittelbar auf der Hand liegt.

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Veröffentlicht am 07.02.2023

Leila, die Tochter Josefs

Sibir
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Zweimal kommen Deutsche aus den Weiten des sowjetischen Großreiches nach Deutschland, nachdem sie als „Feinde“ während der stalinistischen Säuberungen und während des Zweiten Weltkrieges zwangsweise aus ...

Zweimal kommen Deutsche aus den Weiten des sowjetischen Großreiches nach Deutschland, nachdem sie als „Feinde“ während der stalinistischen Säuberungen und während des Zweiten Weltkrieges zwangsweise aus ihrer Heimat ins Nirgendwo umgesiedelt worden waren: 1955 kommt die erste Gruppe nach den Verhandlungen Adenauers in Moskau mit den letzten Kriegsgefangenen, 1990 die zweite Gruppe als sogenannte „Spätaussiedler“, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen und das Sowjetreich zerbrochen ist.

Das ist der historische Hintergrund für Barbara Janeschs Familienroman, in dem es vor allem um den Vater Josef Ambacher geht, der alle historischen Stationen der Völkerverschiebung mitmacht: als Kind von der Weichsel nach Kasachstan vertrieben, 1955 als Jugendlicher nach Deutschlandgekommen und 1990 mit den restlichen Rückkehrern konfrontiert.

Es wäre ein besserer Roman geworden, wenn die Autorin hier den Kontrast eingezeichnet hätte, in der bemerkenswerten Biographie Josefs und in seinem spannungsreichen Charakter, der zwischen empathischer Mittlerfunktion für seine Mitmenschen bei gleichzeitiger Scheu vor zu viel Begegnung und Nähe changiert und weshalb weder das eine noch das andere gut kann. Begründet wird dies in der Entwurzelungserfahrung und der stets gefährdeten menschlichen Bindung im Stalinismus. Nur die Geschichten bleiben, die ihm zugetragen werden und die er wiedergeben kann.

Der erzählerische Kontrast im Roman wird aber aufgebaut, indem Josef die Coming-of-Age-Erfahrung seiner Tochter Leila gegenübergestellt wird, die „auch eine schwere Kindheit“ gehabt habe, wie sie ihrer Tante einmal entgegenschleudert. Die Kindheiten von Josef und Leila sind aber beim besten Willen nicht gut vergleichbar, auch wenn hier – durchaus nachvollziehbar – die generationsübergreifenden Entwurzelungstraumata, die Fremdheitsgefühle und die Identitätsstörungen zwischen „deutschsein“, „russischsein“ oder „garnichtssein“ verhandelt werden. Was Leila für schwerwiegende Erfahrungen am ach so gebeutelten „Rand der Stadt“ macht, der mit dem „Rand der Gesellschaft“ gleichgesetzt werden soll, ist im Grunde genommen der Rede nicht wert: Es sind Erfahrungen, die Nachkommen von deutschen Tätern, deutschen Opfern, Bayern in der Lüneburger Heide oder Holsteinern im Schwarzwald auch machen könnten. Dass es weniger mit der gestörten Identität der Eltern und deren Schicksal zusammenhängt, dass Leila „Resopaltische, Sperrholztüren, Linoleumböden“ als Kennzeichen einer randständigen Gruppe wahrnimmt, als vielmehr mit dem Einkommen der Eltern und vor allem dem Jahrzehnt, in dem das alles passiert (den 1970ern), kommt der Autorin offenbar nicht in den Sinn. Ich habe mich beim Lesen oft gefragt: Wo ist das Besondere, das Mitteilenswerte der Geschichte Leilas? Das bisschen Vergangenheitsbewältigung in der Reibung mit den Kriegserlebnissen der Eltern habe ich bei Böll und Wolfgang Leonhard schon oft und besser gelesen. Die Identitätskrise als Entwurzelter hat bei Katja Petrowskaja viel mehr Wucht und Tiefe. Und wie das mit dem Verschicken in die Weiten des russischen Großreichs und der Willkür des Stalinismus ist, erfährt man eindringlicher in Pristawkins „Schlief ein goldenes Wölkchen“ und umfassender in Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“.

Dennoch ist Josefs Kindheitserfahrung in Kasachstan stark erzählt, fesselnd und lehrreich. Hier lebt Josef, der Geschichtensammler, in der Erzählung. Die Ereignisse werden in der dritten Person mit Josef als Handlungscharakter erzählt und sind deshalb sehr lebendig. Die Steppe und die Kälte sowohl des Winters als auch der Nachbarn lassen einen echt frösteln. In diesem Teil des Romans ist auch der Erzählstrang Leilas stärker, ihr Ausbrechen aus ihrem kindlichen Resopaltrauma und ihre Furcht vor dem verrenteten SS-Mann Tartter ein starkes Stück Erwachsnewerden.

Die ersten hundert Seiten des Romans sind es nicht. Woran liegt das? George R.R. Martin hätte auf jeder Seite ausrufen können: „Show, don’t tell!“, denn Janesch quält sich durch die Situationsbeschreibungen von Josef und Leila. Der Unterscheid zum späteren, stärkeren Teil des Buches, erschließt sich aus dem Unterscheid zwischen dem „Bericht über einen Mann, der eine Geschichte erzählen kann“, zu einem „Mann, der eine Geschichte erlebt“. Vor allem aber quälen die bisweilen fast pathetischen Daseinsklagen über das schwere Schicksal der in Deutschland als Rückkehrerkind geborenen Leila.

Unter dem Strich eine Enttäuschung. Überladen durch den Befreiungskomplex, mit dem die Autorin sich offenbar ihre eigene Geschichte vom Leib schreiben wollte.

Über Josefs Innenleben hätte ich gern viel mehr gelesen. Was bleibt, ist der Schrecken, den das einzelne Wort „Sibir“ auslöst. Selbst wenn es sich dabei um Kasachstan und nicht um Sibirien handelt.

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